August 2002
WAS SCHERT UNS DIE REALITÄT?
ZUR WELTVERGESSENHEIT BLINDER IDEOLOGISCHER
KRITIK
Eine Antwort auf den
Artikel von Haimo „Kurs(k) halten“ (Rotdorn Nr.
32)
Die sozialistische politische Linke hat offensichtlich eine Erbkrankheit, die keine „Kinderkrankheit“ ist, wie noch Lenin hoffte. Es ist die latente Neigung zur Ignoranz der realen Welt mit ihren politischen, ökonomischen und sozialen Machtstrukturen und Kräftekonstellationen. Gemeint ist damit nicht das linke Utopiepotenzial: ohne Utopie lässt sich eine gesellschaftsverändernde Theorie und Politik nicht entwickeln. Vielmehr geht es um die Neigung, die Welt in festgefügte Erklärungsmuster und statische Theorie zu fassen und den Irrtum, daraus Politik unmittelbar ableiten zu können. Und wenn die gesellschaftliche Realität nicht unter diese Muster passt, wird sie standhaft belehrt und / oder ignoriert. Was braucht man politische Alternativen, wenn man einen Karteikasten voller ideologischer hat? Und mit der Wahrheit, meinte wohl Haimo, braucht man es dann auch nicht so genau zu nehmen. Hauptsache, man ist auf der „richtigen Linie“. Aber Politik, auch sozialistische, hat von den vorgefundenen Zuständen und Verhältnissen auszugehen, oder sie wird – wie erst jüngst – von der gesellschaftlichen Entwicklung beschämt.
Haimo meint, mit der Risikoabschirmung
habe Rot-Rot nicht nur die Absicherung von Krediten übernommen, für die Berlin
tatsächlich haften müsste, sondern auch die Verbindlichkeiten des laufenden
Geschäfts der Bankgesellschaft Berlin und aller ihrer Töchter, ohne daß das
Land in der Haftung stünde. Es sei also eine Risikoübernahme ohne Not gewesen
... Leider ist dies nicht wahr.
Die vom rot-grünen Senat
beschlossene und von der rot-roten Abgeordnetenhausmehrheit bestätigte
Risikoabschirmung betrifft mögliche Verluste der Bankgesellschaft, die aus dem
Immobiliendienstleistungsgeschäft bis zum 31.12.2001 folgen. Das ist natürlich
nur ein Teil der Geschäftstätigkeit des Bankkonzerns, allerdings ein nicht
unbeträchtlicher. Es geht hier aber ausschließlich um das Altgeschäft, auch
wenn es dabei sicher Abgrenzungsprobleme geben wird. Die Banken des Landes und
deren Immobiliendienstleistungsgesellschaften haben in den Jahren 1991 bis 2001
versucht, auf dem boomenden Immobilien- und Kapitalanlagemarkt ein großes Stück
vom Kuchen abzubekommen. Allerdings taten sie das voller Selbstüberhebung
höchst inkompetent und gingen dabei unverantwortlich Risiken ein. So wurden
insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern risikoreiche
Immobilieninvestitionen finanziert, die auf dem Glauben an die blühenden
Landschaften im Osten und nicht auf seriösen betriebswirtschaftlichen
Kalkulationen basierten. Und dann stieg die 1994 gegründete Bankgesellschaft
bzw. deren Tochter IBG groß in das Immobilienfondsgeschäft ein. Schien es doch
auch ein Ausweg, um „notleidendes Kreditengagement“ zu parken und zu
verschleiern. Es wurde dabei ein riesiges Immobilienvermögen zusammengekauft,
das heute oftmals kaum noch die Hälfte der gezahlten Preise wert ist. Es wurden
den Kapitalanlegern Garantien gewährt, insbesondere Vermietungsgarantien, die
angesichts hoher Leerstände und des Mietpreisverfalls in Gewerbe- und
Wohnimmobilien heute zu immensen Verlusten führen. Angesichts dieser Risiken
und Verluste drohte der Bankgesellschaft 2001 die Schließung durch die
Bankenaufsicht, weil der Konzern für gesetzlich verpflichtende Risikovorsorge
kein ausreichendes Eigenkapital mehr hatte.
Eine „normale“ Bank müsste
als Preis für zu risikoreiches und unfähiges Wirtschaften den Preis der
Insolvenz zahlen. Nur ist die Bankgesellschaft Berlin leider keine „normale“
Bank. Der Eigentümer ist zu großen Teilen das Land Berlin. Noch schlimmer, eine
wichtige Teilbank dieses BGB-Konzerns ist eine Anstalt öffentlichen Rechts: die
Landesbank Berlin, mit der Investitionsbank und der Berliner Sparkasse. Für die
hier entstandenen Verluste haftet das Land Berlin direkt und uneingeschränkt im
vollen Umfang (Gewährträgerhaftung).
Man braucht gar nicht über
den volkswirtschaftlichen Schaden spekulieren, den der Zusammenbruch des
Berliner Bankkonzerns mit seinen drei Teilbanken ausgelöst hätte. Es genügt
völlig, sich die Zahlungsverpflichtungen des Landes Berlin auszurechnen: die
zwischen 50 und 80 Milliarden DM geschätzt wurden, die innerhalb weniger Monate
fällig geworden wären. Das Stadt hätte zur Bedienung dieser Verpflichtungen
Gelder am Kapitalmarkt aufnehmen müssen, wahrscheinlich zu miserablen
Bedingungen. Vorsichtig geschätzt, hätte das Land Berlin das Fünffache dessen
jährlich an Zins und Tilgung allein für diese neuen Kredite zahlen müssen, verglichen
mit dem, was auf dem jetzt beschrittenen Weg der Risikoabschirmung auflaufen
wird. Wenn es jemals für das Land eine Chance gegeben hat, weniger schwer
belastet aus der Bankenkrise herauszukommen, hätte spätestens im Frühjahr 2001
eine gezielte, isolierte Insolvenz von Teilen des Konzerns angestrebt werden
müssen. Ende 2001 oder Anfang 2002 gab es dafür nach meinem heutigen
Erkenntnisstand keine reale Grundlage mehr.
Haimo ist die Realität
egal, wenn er behauptet, Rot-Rot habe ohne Not die Risikoabschirmung für die
Immobilienrisiken beschlossen. Was hilft es, über die horrenden Gewinne der
Zeichner der Immobilienfonds zu schwadronieren, ohne sich auch nur die Mühe zu
machen, die realen finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse dieser
Immobilienfonds (und ihrer über 70.000 Zeichner) anzuschauen, zwischen
Publikums- und Exklusivfonds, zwischen normaler Verzinsung angelegter privater
Guthaben und unnormalen Abschreibungsquoten, zwischen marktüblichen und
unüblich unseriösen Garantien zu unterscheiden?
So wenig sich Haimo mit den
realen Bankproblemen auseinandersetzt, sowenig tut er dies in seiner Kritik
rot-roter Regierungspolitik mit den Problemen, die sich hinter den anklagend
aufgerufenen Stichworten Kita, Grundsteuer, Jugendhilfe verbergen. Er setzt
sich nicht in der Sache auseinander, um anhand der Handlungsbedingungen die
Entscheidungen der Koalition zu kritisieren und dazu auch Alternativen
aufzuzeigen, sondern „entlarvt“, „klagt an“ und „urteilt ab“ nach Maßgabe
ideologischer Vorurteile. Denn welche Gründe sollte es für die von ihm
gescholtene „Realpolitik“ geben, wenn nicht „Anpassung“, „Unterwerfung“ und
„Verrat“ an Grundsätzen? (Dass in Heimos Aufzählung die kritikwürdige
Absenkung der Förderung der „Privat“schulen nicht auftaucht, wird doch keine
ideologische Gründe haben?).
Rot-Rot in Berlin braucht
sachliche und fundierte Kritik, braucht begründete Widerspruch, braucht das
Aufzeigen politischer Alternativen. Denn die gesellschaftspolitischen Reformleistungen
der rot-roten Koalition sind mehr als dürftig. Diese Regierungskoalition ist im
Haushaltskrisenmanagement versunken, ohne bislang wirkliche Impulse für eine
sozial gerechtere Politik auszusenden. Nur: realitäts- und politikabstinente
Belehrungen nutzen da rein gar nichts. Sie sind lediglich das Komplementär zur
opportunistischen Realo-Politik, die die politischen und gesellschaftlichen
Kräfteverhältnisse als unwandelbar denkt. Linksideologen wie Haimo ignorieren
sie einfach. Beide werden keinen Beitrag zu einer gesellschaftsverändernden
Politik leisten.
Michail Nelken
(PDS-Mitglied im Abgeordnetenhaus)