Januar 2002

 

"Auge um Auge macht blind!"

Anmerkungen zum israelisch-palästinensischen Konflikt

 

Alleingelassen durch die Häppchen-Informationen der gängigen Medien, steht der Leser hilflos vor der quasi automatischen Abfolge von Gewalt und Gegengewalt im Nahen Osten. Es ist ihm als Zeitgenosse so gut wie unmöglich, den Konflikt politisch einzuordnen. Hinzukommt die deutsche Vergangenheit mit ihrer technokratisch geplanten Ausrottung des europäischen Judentums, die eine Bewertung israelischer Politik erschwert. Jedoch ist wiedergutmachen-wollender Philosemitismus ein schlechter Ratgeber bei dem Unterfangen, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu begreifen.

In zwei Artikeln wird in geraffter und selbstverständlich auch verkürzter Form eine Annäherung an die Komplexität des Problems versucht. Der hier abgedruckte erste Teil beleuchtet die Vorgeschichte, die Kriege und die Situation der israelischen Rechten, wobei sich der Artikel bewußt als Ergänzung zu den üblichen Medieninformationen versteht. Der zweite Teil folgt im nächsten Heft und wird sich mit den Palästinensern, den Friedensbemühungen beider Seiten und der Rolle der USA als Vermittler beschäftigen.

 

Erster Teil

 

Vorgeschichte

Nation und Staat hängen spätestens seit der französischen Revolution eng miteinander zusammen. Der Imperialismus Europas im 19. und die Auflösung der Kolonialreiche im 20.Jahrhundert haben diesen Zusammenhang über den ganzen Erdkreis ausgebreitet. Nur wenige Völker müssen sich für ihr Selbstverständnis als Nation, die einen Staat beansprucht, rechtfertigen: Kurden, Basken, Tschetschenen, Tibeter, Sahraouis, Palästinenser und Israelis.

Durch die Neuaufteilung von Kolonien und Gebieten nach dem Ende des I.Weltkrieges wurde Palästina 1922 als Gebietskörperschaft unter britisches Mandat gestellt. Die Briten haben den Arabern, das nur nebenbei, um sie in beiden Weltkriegen militärisch auf ihre Seite zu ziehen, staatliche Unabhängigkeit versprochen. Auf dem Gebiet dieses Palästina liegt das heutige Israel.

 

"Der Judenstaat" überschrieb Theodor Herzl, der Vater der jüdisch-nationalistischen Bewegung (Zionismus), 1896 eine Broschüre, die das Projekt eines jüdischen Staates in Palästina oder, mit weniger Engagement, in Argentinien forderte. Die Broschüre weist auf Palästina als historischer Heimat des Volkes Israel hin und erwähnt mit keinem Wort die derzeitige arabische Bevölkerung. In seinem utopischen Roman "Altneuland" hat Herzl eine tolerante Gesellschaft skizziert. Das Motto war: "Mensch, du bist mein Bruder!" Einige Zionisten, wie der große Philosoph Martin Buber, haben dieser Utopie bis zum Kriegsausbruch 1948 geglaubt und für ein binationales Staatswesen gestritten. Der Führer der Zionistischen Bewegung äußerte noch 1937 vor der britischen Palästina-Kommission, dass "Palästina genügend groß ist, um die jetzige Million Araber plus eine Million ökonomische Plätze für ihre Kinder plus viele Millionen jüdischer Einwanderer – und plus Frieden umfassen ... zu können". Heute allerdings fürchtet die israelische Politik die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge. Das war der Grund für die israelische Regierung Barak, vor knapp zwei Jahren die Friedensverhandlungen unter der Schirmherrschaft Präsident Clintons scheitern zu lassen (Camp David II).

Für die Zionisten im imperialistischen Europa stellten die Juden primär keine Glaubensgemeinschaft, sondern ein Volk dar. Damit definierten sich die zionistischen Juden als eine Nation, die folglich im Geist des Nationalismus des 19.Jahrhunderts ihren Nationalstaat anstrebten. Da sie kein angestammtes Territorium wie Tschechen, Polen oder Griechen (Nationalstaatsgründungen nach dem I.Weltkrieg) besaßen, mussten die Zionisten durch Siedlungskolonisation ein Nationalgebiet errichten. Sie taten das im von Arabern besiedelten Palästina mit ebenso ruhigem Gewissen wie die europäischen Auswanderer im von Indianerstämmen besiedelten Nordamerika, oder von Aborigines bewohnten Australien. Den Zionisten war, wie den meisten Europäern, die Hybris des europäischen Kulturmenschen gegenüber dem wilden Ureinwohner eigen.

Der prompte national-jüdische Verweis auf eine angestammte Heimat, in der vor zweitausend Jahren gesiedelt worden war, würde unweigerlich nach den vielen Völkerwanderungen und territorialen Verschiebungen auf dem Globus zu einem unerhörten Revanchismus führen. Die Ungarn würden ein Großreich zwischen Don und Dnjepr beanspruchen können, die Italiener große Teile des Römischen Reiches und die Germanen könnten darauf verweisen, wie Hitler nicht müde wurde zu betonen, dass sie vor 2000 Jahren im Osten bis an die Wolga gesessen hatten.

Als unter dem britischen Mandat deutlich wurde, dass es zu keiner versprochenen arabischen Unabhängigkeit kommen würde, begann 1936 ein bewaffneter Aufstand der arabischen Bevölkerung. Ebenso war, bedingt durch die schnell wachsende jüdische Einwanderung vor allem aus Nazi-Deutschland, für die Mandatsmacht nicht zu übersehen, dass die zionistischen Siedler einen eigenen jüdischen Staat anstrebten. Da dieser nicht im geopolitischen Interesse der Briten lag, drosselten sie die Einwanderung von Juden ins Mandatsgebiet. Seither verstand sich die zionistische Bewegung in Palästina auch als eine Art Befreiungsbewegung gegen den britischen Imperialismus und kämpfte mancherorts mit den Arabern zusammen gegen die Kolonialherren. Die Briten hielten sie schlicht für Terroristen. Tatsächlich begann der militante Flügel der Zionisten spätestens seit Ende der dreißiger Jahre den bewaffneten Kampf gegen Briten und  ihre arabischen Statthalter mit Hilfe einzelner terroristischer Attentate. Einer dieser Militanten, der Bomben legte, war der spätere Ministerpräsident Begin.

Die gemäßigten Kräfte sahen sich eher im Sinne des indischen Nationalkongresses des Mahatma Gandhi als zähe Verhandlungspartner der Mandatsregierung, die auch nach Bekanntwerden der Judenvernichtung unter der NS-Herrschaft in Europa Einwandererschiffen die Landung verweigerte.

 

Die arabisch-israelischen Kriege

Völkerrechtlich haben weder Israelis noch Palästinenser in ihren Unabhängigkeitserklärungen und Staatsgründungsdokumenten Grenzen ihres vorgesehenen Staatsgebietes angegeben.

Genaue Grenzlinien für einen jüdischen und einen arabischen Staat in Palästina legte die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 29.November 1947 fest (Res.181-II). An diese Grenzziehung wollen sich die Israelis nicht mehr erinnern, während die PLO gelegentlich auf diese UN-Resolution verweist. Die Resolution ist damals von den arabischen Nachbarstaaten nicht akzeptiert worden und ihre vorgesehene Grenzziehung wurde nie in die Realität umgesetzt. Nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg bildeten 1949 die               Waffenstillstandslinien de facto die Staatsgrenze Israels.

In diesem ersten arabisch-israelischen Krieg 1948/49, der gleich nach der Ausrufung des Staates Israel von den Nachbarn Transjordanien, Ägypten, Syrien, dem Libanon und dem Irak begonnen wurde, eroberten die Israelis Territorien, die die UN für die Palästinenser vorbestimmt hatten und es wurden mehr als 700 000 Palästinenser mehr oder weniger gewaltsam vertrieben. Ben-Gurion, der erste israelische Ministerpräsident, erklärte jedoch ganz offen, dass das von der UN vorgesehene Territorium für die Israelis zu klein sei.

Als 1956 die Engländer und Franzosen, deren Konzerne den Suezkanal ausbeuteten, auf die ägyptische Verstaatlichung der Kanalgesellschaft mit kriegerischen Mitteln antworteten und die Kanalzone besetzten, griff Israel auf der Seite dieser Kolonialmächte ein und besetzte das Sinai und das östliche Kanalufer. Erst die UN zwang die Israelis auf russischen und US-amerikanischen Druck 1957 zum Rückzug.

Leider waren die Israelis auch in der Zukunft bei der Auswahl ihrer politischen Freunde nicht wählerisch, wie ihre glänzenden Beziehungen zum südafrikanischen Apardheid-Regime und zum Chile Pinochets beweisen.

Von 1957 bis 66 war eine fast friedliche Zeit im Nahen Osten. UN-Truppen sorgten an der ägyptisch-israelischen Grenze für Ruhe. Erst als die Israelis das Wasser des See Genezaret abpumpten und die Negev-Wüste bewässerten, gab es wieder Spannungen mit Syrien und Jordanien um das Jordanwasser.

Nachdem die UN-Truppen 1967 abgezogen waren, Ägypten den Zugang zum israelischen Hafen Elat blockierten und die arabischen Nachbarn Israels an dessen Grenzen Truppen zusammenzogen, schlug Israel mit seiner überlegenen Militärmaschinerie (Luftwaffe und Panzern) zu. Im Sechs-Tage-Krieg 1967 besetzten Israelis erneut den Sinai, das Westjordanland, den Gazastreifen und die Golanhöhen. Vor allem aber eroberten sie Ostjerusalem mit den Heiligtümern der Moslems. Mit ihrer aggressiven Siedlungspolitik in den bis heute besetzten Gebieten zerstörten sie palästinensisches Eigentum und vertrieben erneut Tausende Palästinenser.

Im Oktober 1973 griffen im sog. Jom-Kippur-Krieg ägyptische und syrische Truppen die von Israel besetzten Gebiete an. Doch die Israelis hielten am Sinai und an der Golanfront auf Grund ihrer überlegenen Waffentechnik ihre Stellungen. Durch US-amerikanische Vermittlung kam es an den Fronten zu einem Waffenstillstand, Teilrückzügen der Israelis und Truppenentflechtungen. Auf Initiative des ägyptischen Präsidenten Sadat, der später von arabischen Fundamentalisten ermordet wurde, kam es 1978 zu einem Friedensabkommen zwischen Israel und Ägypten – Anerkennung Israels und Frieden gegen Rückgabe der ägyptischen Gebiete, die seit 1967 besetzt waren (Camp David I).

1982 folgte ein gegen die aus dem Südlibanon heraus agierenden PLO-Kämpfer gerichteter Einmarsch in das Staatsgebiet des Libanon unter General Sharon. Doch mussten die Israelis die umstellte Führung der PLO, darunter auch Yassir Arafat, und ihre meisten Kampfverbände auf Drängen der UN und der US-Regierung abziehen lassen. Die Besetzung des Südlibanons hielt solange an, bis eine aus rechten, falangistischen Kreisen des Libanon gebildete Armee die Überwachung der palästinensischen Flüchtlingslager im Südlibanon übernahm und Israel nur "noch" als Vergeltung für Raketenangriffe auf jüdische Siedlungen die Lager bombardierte.

 

Die israelischen Fundamentalisten

Die bekannten Schablonen Zivilisation contra Barbarei und Demokratie contra Diktatur treffen im Verhältnis Israels zur palästinensischen Autonomiebehörde ebenso wenig zu, wie in vielen anderen Fällen auf der Welt. Fest steht nur, dass in den letzten israelischen Regierungen die religiösen Rechtsparteien Sitz und Stimme besaßen, die vom Westen, wenn solche Gruppierungen auf muslimischer Seite ebistieren, als Fundamentalisten bezeichnet werden. In der derzeitigen israelischen Regierung haben sie neben den Militärs wie der Ministerpräsident General Sharon ein entscheidendes Wort mitzureden.

Der israelische Historiker Moshe Zimmermann, Professor  an der Jerusalemer Universität, soll hier als Augenzeuge aufgerufen werden, um die Fronten des Hasses einschätzen zu können. Er selbst erhielt mehrfach Morddrohungen von rechten Kreisen und sollte, trotz "Demokratie" von der Universität entfernt  und mundtot gemacht werden.

"Im Jahre 1981 erschien in den zwei größten israelischen Zeitungen eine vom israelischen Rechtsextremisten Meir Kahane verfasste Anzeige unter dem Titel Töchter Israels -  wehrt Euch!. Es handelte sich um einen Aufruf zur Verabschiedung von Gesetzen, mit denen die Eheschließung zwischen jüdischen und muslimischen Partnern und sogar sexuelle Beziehungen zwischen ihnen unter Strafe gestellt werden sollten. Der Historiker der deutschen Geschichte kann sich in einem derartigen Fall nicht der Verantwortung entziehen, hier auf die Affinität der Vorschläge Kahanes zu den Nürnberger Gesetzen hinzuweisen...Meir Kahane ist kein Einzelfall. Es gibt in Israel eine Partei, die den Transfer, die Vertreibung, der Araber aus den besetzten Gebieten...und der arabischen Staatsbürger Israels verlangt. Nahezu die Hälfte der jüdischen Israelis möchte den arabischen Staatsbürgern darüber hinaus keine politische Gleichberechtigung gewähren. Der Attentäter, der Ministerpräsident Yitzchak Rabin im November 1995 ermordete, hielt den Beschluss der Knesset, des israelischen Parlaments, zur Annahme des Prinzipienabkommens mit den Palästinensern vom September 1993 für illegitim, weil die parlamentarische Mehrheit, mit der das Abkommen angenommen wurde, nicht allein durch Stimmen jüdischer Abgeordneter erzielt wurde...

Ein junger israelischer Autofahrer hatte im September 1995 versucht, den Wagen des damaligen Umweltministers von der linken Merez-Partei bei einem Überholversuch von der Straße abzubringen...Die Stimmung im Lande war seinerzeit außerordentlich gereizt. Die Diskussion um den Rückzug aus der West-Bank infolge der Oslo-Abkommen wurde radikal geführt, und der Täter selbst hatte seine Absicht keineswegs geleugnet. Dies veranlasste mich, unter dem Titel Weimars Schrift an israelischer Wand einen Zeitungsartikel zu veröffentlichen, indem ich den Mord an Walther Rathenau und das Wort des damaligen deutschen Kanzlers Dieser Feind steht rechts! als mahnende Erinnerung anführte... Auch diesmal hatte die Warnung der Feind steht rechts! nicht geholfen. Im November 1995 wurde der Ministerpräsident Yitzchak Rabin von einem rechtsradikalen Attentäter ermordet, und im Mai 1996 kamen Benjamin Netanjahu und seine (rechte) Regierung durch Neuwahlen an die Macht." (aus: Moshe Zimmermann, Deutsch-Jüdisch oder wie man den Mord an Yitzchak Rabin hätte verhindern können, Wien, Linz, München)

Ebenso entschieden sich die israelischen Wähler fast fünf Jahre später für General Sharon und wählten die sich in Friedensverhandlungen befindliche Regierung Barak ab.

Nach der Begehung des Tempelberges, eines moslemischen wie jüdischen Heiligtums durch General Sharon, dem späteren Ministerpräsidenten und politischen Rechtsaußen, begann erneut die Entifada, der Aufstand der ohnmächtigen, ohne Lebensperspektive aufwachsenden Jugend und der die Verzweiflung ausnutzenden Fundamentalisten Palästinas.

Rache und Vergeltung schaffen keine Sicherheit für die Menschen in Israel. Kein Staats- oder Militärapparat kann vor zu allem entschlossenen Selbstmord-Attentätern schützen. Im übrigen, wie verzweifelt und ohne Lebensperspektive muss ein junger Mensch erst gemacht worden sein, ehe er zu einem Selbstmordattentäter wird?

Natürlich hat die israelische ebenso wie die palästinensische Bevölkerung ein Recht auf einen gewaltfreien Alltag ohne Bombenattentate. "Auge um Auge, Zahn um Zahn" wird den Frieden nicht herbeibomben. Aber selbst an diesen alten biblischen Satz "Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand..." halten sich die Israelis nicht. Denn dieser Satz ist ein archaischer Strafkatalog und soll unangemessene Vergeltung und Bestrafung verhindern. Für das Ausstechen eines Auges soll als Strafe eben auch nur der Verlust eines Auges stehen und nicht das Recht, den Täter mit dem Tod zu bestrafen. Selbst jedoch von einer solch archaischen Bestrafung des Terrors einiger radikaler, von Hass zerfressener Palästinenser ist Israel meilenweit entfernt. Sie vernichten nicht nur menschliches Leben, sondern die Hoffnung und Lebensperspektive auch der Überlebenden ihrer Bomben- und Panzerangriffe. Sie säen neuen Hass und neue Gewalt. Sie zerschlagen die gesamte Infrastruktur der Autonomiebehörde und schreien dann, nachdem sie die Polizeistationen, die mit europäischen Steuermitteln errichtet wurden, niedergebombt haben, warum macht ihr Palästinenser die Terroristen nicht dingfest, was den USA und den Israelis selbst mit ihrem riesigen Geheimdienstapparat nicht gelingt.

Nach dem 11.September hatte eine Hand auf einer Wand in New York geschrieben: "Auge um Auge macht die Welt blind!" Der Nahe Osten mit seiner Kette von Attentaten und antwortendem Staatsterror scheint dies zu unterstreichen.

Klaus Körner

 

 

 

 

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