Mai 1993

Die Situation der bosnischen Flüchtlinge

Ein Augenzeugenbericht und Spendenaufruf

Seit Februar diesen Jahres arbeiten wir daran, eine Fahrradwerkstatt und -ausleihstation für bosnische Flüchtlinge in einem Flüchtlingslager in Kroatien aufzubauen. Nach mehreren Vorgesprächen mit schon dort arbeitenden Organisationen unternahmen wir Ende März eine Vorbereitungsfahrt in o.g. Flüchtlingslager in Savudrjia auf der Halbinsel Istrien/Kroatien. Ca. 2500 Flüchtlinge sind dort in UNO- Baracken auf dem Gebiet eines ehemaligen Kinderferienlagers mit einer Kapazität von l000 Plätzen untergebracht. Das Überleben, die Ernährung und die Versorgung der Flüchtlinge mit Kleidung und Unterkunft sind zwar durch die Arbeit verschiedener Organisationen und Träger (Rotes Kreuz, UNHCR, Malteserhilfsdienst, kroatische Verwaltung, u.a.m.) in ausreichendem Maß gesichert. Bedenkt man jedoch, daß ein großerTeil der Flüchtlinge schon seit knapp einem Jahr dort lebt, so wird man verstehen, daß die sich breitmachende Resignation unter den Flüchtlingen derzeit zu den größten Problemen zählt. Während eines Krieges oder auch während eines schweren Unglücks arbeitet der Mensch normalerweise in äußerster Anstrengung daran, das schrekliche Ergebnis zu beenden, abzuwenden oder zumindest sein Überleben und das seiner Angehörigen oder Freunde zu sichern. Dieser Kampf füllt ihn voll aus und er hat, wie man bei uns zu sagen pflegt, in dieser Situation "Keine Zeit, auf dumme Gedanken zu kommen". Ist der Krieg, das Unglück, oder was auch immer überwunden, der Feind besiegt, der Schrecken abgewendet oder sonst irgendwie beendet, so beginnt die Zeit, in der das Erlebte aufgearbeitet werden kann. Dazu gehört hauptsächlich eine emotional-seelische Aufarbeitung, d.h. in erster Linie intensive Trauer über die Verluste oder das geschehene Leid. Das normale Leben, das folgt, wird wieder ein produktives Leben für das Leben und ist nicht länger nur Leben gegen den Tod und die Zerstörung.Die Zeit der Neuorientierung, des Wiederaufbaus folgt und füllt die Menschen aus, auch wenn sie noch von Phasen der rückblickenden Trauer unterbrochen wird. Die bosnischen Kriegsflüchtlinge in den Lagern nun haben weder die Möglichkeit aktiv an der Beendigung des Krieges zu wirken, weil sich dieser weit entfernt abspielt, noch können sie ihre ganze Kraft für ihr Überleben einsetzen, da sie weder arbeiten dürfen, um Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen, noch können bzw. brauchen sie sich um Unterkunft und Ver- pflegung zu kümmern. Im Hinblick auf den Überlebenskampf und die Beendigung des Krieges sind sie ironischer Weise zum Nichtstun quasi verdammt. Am Trauern oder am Neubeginn ihres Lebens wiederum hindert sie gerade der Krieg, der ja noch in voller Stärke tobt und durch den ihre Angehörigen und Wohnorte direkt betroffen sind. Die Zeit der seelischen Aufarbeitung und des wirt- schaftlichen und kulturellen Neubeginns kommt erst nach der Beendigung des furchtbaren Krieges. Zudem haben sie wirklich wenig Möglichkeiten in den Lagern, Beschäftigungen zu finden, die produktiv sind und einem wirklichen Neuaufbau iher Existenz dienen würden. Einzig die Schule für die Flüchtlingskinder leistet in gewissem Sinne für die Kinder und Jugendlichen durch lernen und Ausbildung einen solchen Beitrag. Resignation entsteht, wenn man nicht das tut, was man müßte, weil man es nicht tun kann oder will. Es ist, um dem entgegenzuwirken, deshalb ganz wichtig, daß die Flüchtlinge Partner haben, mit denen sie lernen können, ihre Situation insofern zu akzeptieren, als das der Krieg für sie vorerst vorbei ist. Sie brauchen Menschen, die ihnen helfen, wirklich zu trauern und das vergangene loszulassen, obwohl der Krieg in Bosnien noch tobt. Andererseits brauchen sie viel Optimismus und Mut, um in ihrer beengten Situation produktive Tätigkeiten zu entdecken und zu organisieren. Wir können ihnen durch unser Engagement und unsere Unterstützung helfen, auch das Leben im Flüchtlingslager als wirkliches Leben zu akzeptieren und ihre Zeit nicht nur mit Warten totzuschlagen. In diesem Sinne regen wir Aktivitäten an oder unterstützen bestehende, weil sie sowohl die Zeit der Flüchtlinge mit sinnvoller produktiver Arbeit füllen, als auch großen praktischen Nutzen bringen. Die Fahrradstation erhält den Flüchtlingen auf der einen Seite einen Rest an Mobilität, um aus dem abgelegenen Lager zu Besorgungen, zum Telefonieren oder auch zur Erholung in die umliegenden Ortschaften oder in die Natur zu gelangen. Andererseits stellt die von den Flüchtlingen selbst- verwaltete Fahrradreperatur und -ausleihe zumindest für die Betreiber einen sinnvollen Inhalt für ihre ohne Zweifel psychisch schwierige Situation im Flüchtlingslager dar. Unsere Vorbereitungsfahrt in der letzten Woche hat gezeigt, daß erstens der Bedarf an Fahrrädern enorm ist, daß zweitens die Flüchtlinge mit großem Interesse bereit und in der Lage dazu sind, sich aus alten Fahrradteilen selbstständig benutzbare Fahrräder zusammenzumontieren, und daß drittens sowohl Flüchtlinge da sind, welche die Fahrradstation in eigener Regie mit unserer materiellen Hilfe weiterbetreiben werden, als auch, daß ein Raum vorhanden sein wird, um das Projekt umzusetzen .Wir hatten diesmal probehalber Teile für insgesamt 9 Fahrräder dabei. Diese waren nach sechsstündiger Arnbeit von den beteiligten ca. 20 Kindern und Jugendlichen fertiggeschraubt. Die am Tag darauf anfallenden Reparaturen wurden schon fast selbstständig von zwei bosnischen Männern ausgeführt, die unsere Ansprechpartner sein werden. Einer von ihnen ist gelernter Fahrradmechaniker. Behilflich bei dem Fahrradprojekt ist uns die Organisation Suncokret, welche seit September letzten Jahres in dem Lager vorwiegend pädagogisch in der Flüchtlingsbetreuung tätig ist. Sie hat eine feste Mitarbeiterin und mehrere Freiwillige ständig im Lager und wird bspw. die Ersatzteilversorgung erleichtern. Für unsere Fahrt Anfang Mai in dieses und andere Lager benötigen wir noch Spenden in Form von alten noch verwendungsfähigen Fahrradteilen aller Art, natürlich auch ganze Fahrräder, Werkzeug und Geld für den Transport. Ganz dringend suchen wir außerdem einen mittleren LKW, den wir uns für den Transport Anfang Mai für zwei bis drei Tage ausborgen oder billig mieten können. Da der Bedarf an Fahrrädern in den Flüchtlingslagern enorm ist, versuchen wir so viel wie möglich alte und neue Teile, Ersatzteile und Fahrräder zusammenzubekommen. Wenn wir genügend Fahrräder zusammenbekommen werden wir in weiteren Lagern mit dem Aufbau von Fahrradstationen beginnen. Solltet Ihr unsere Aktion unterstützen wollen, so könnt Ihr den Fahrradschrott im JUP, Florastr.84 abgeben oder auch dort anrufen (48 28 243). Wir werden im Bedarfsfalle größere Mengen auch selber abholen. Ebenfalls Werkzeug und Geld (mit Spendenquittung) könnt Ihr im JUP im Büro abgeben, oder dort nach der Nummer des Spendenkontos fragen. Beteiligt Euch an der Aktion und macht Werbung für uns, damit wir bis Anfang Mai auch genügend Teile (für ca. 100 Fahrräder) zusammenbekommen.

Christoph Leucht