Coesfeld ist überall!

Eine Armee ist eine Armee, ist eine Armee ...

Seit dem 19. März 2007 verhandelt das Landgericht Münster gegen 18 Bundeswehrausbilder. Einem Offizier und 17 Unteroffizieren aus der Freiherr-vom-Stein-Kaserne in Coesfeld wird vorgeworfen, im Sommer 2004 163 Rekruten körperlich misshandelt und entwürdigend behandelt zu haben. Für den Prozess sind 45 Verhandlungstagen anberaumt, das Urteil soll am 19. Dezember fallen. Dann wird Presse sich wieder anderen »Skandalthemen« zuwenden, ohne dass über Grundsätzliches diskutiert wurde, wie immer. Der »Skandal« wird wie alle anderen großen und kleinen »Skandale« in die Bundeswehrannalen eingehen, als bedauerlicher Einzelfall.

Zum Abschluss eines Unteroffizier-Lehrgangs an einer Heeresschule fand eine »Durchschlageübung« statt, an der mehr als 100 Lehrgangsteilnehmer als »Gefangene« beteiligt waren. Im Rahmen dieser Übung wurden die Teilnehmer in Bunker gesperrt. Die Bunkerwände waren mit Nägeln und Haken versehen, damit die »Gefangenen« sich weder anlehnen noch ausruhen konnten. Mehr als 15 Stunden stehend und ohne Verpflegung wurden sie mit Dreckwasser und Trockenlöschpulver bespritzt. Ihre Notdurft mussten sie im Bunker verrichten.

Wenigstens ein Soldat wurde am zweiten Tag der Übung vor einer »Vernehmung« zu einer »Morgengymnastik« befohlen und sollte sich dafür ausziehen. Nachdem er verweigerte, wurden ihm die Hände auf den Rücken gefesselt, mit einem Strick nach oben gezogen und am Bunkerdach befestigt, anschließend wurde er wieder mit Dreckwasser bespritzt. Nach einer halben Stunde wurde er mit einem Strick um den Hals zum »Verhör« gebracht und erneut mit Wasser übergossen. Danach musste er in einem anderen Bunker, in dem das eiskalte Dreckwasser zehn Zentimeter hoch stand, gefesselt auf dem Boden liegen.

Lediglich ein Soldat beschwerte sich beim Wehrbeauftragten. Bei der Untersuchung des Vorfalls wurde festgestellt, dass diese Übung ohne Beanstandung durch disziplinarische Vorgesetze und ohne Beschwerden von Betroffenen bereits mehrfach abgehalten wurde und zur »Selbstdisziplin und Härte« der Soldaten führen sollte.

Hier handelt es sich nicht um den Einzelfall Coesfeld sondern um einen Einzelfall aus dem Jahre 1974.

Wie die Einzelfallthese entstand

1960 stellte der Wehrbeauftragte, der zum »Schutz der Grundrechte« und als »Hilfsorgan des Parlaments« zur »Kontrolle der Streitkräfte« 1957 etabliert wurde, seinen ersten Bericht über den Zustand der Truppe dem Parlament vor. Das Amt des Wehrbeauftragten

wurde 1959 erstmals mit zweijähriger Verspätung besetzt, was bereits Aufschluss über die Situation und Stellung des Wehrbeauftragen gibt. Von den Militärs geschnitten, weil sie keine Kontrolle wollten, von vielen Politikern angefeindet, weil als Alibi bei der Wiederbewaffnung an SPD und Kriegsgegner festgelegt, hatte der erste Wehrbeauftragte einen schweren Stand.

In diesem Sinn entstand um die ersten Jahresberichte eine hitzige Debatte, die dazu führte, dass in Zukunft sogenannte »besondere Vorkommnisse«, also Verstöße gegen gesetzliche Normen, grundsätzlich als »Einzelfall« bezeichnet werden mussten. Seither gibt es jedes Jahr im Jahresbericht des Wehrbeauftragten mehr als hundert »bedauerliche Einzelfälle«, die nicht auf einen Gesamtzustand der Truppe Rückschlüsse zulassen.

Einzelfall als System

Militärische Organisationsformen arbeiten systematisch mit Gewalt. Gewalt wird offiziell nach »außen« angewandt. Kern des soldatischen Handwerks ist das Töten, um es mit Tucholsky zu sagen, das Morden.

Damit der einzelne Mensch im Militär funktioniert, also Gewalt anwendet, muss er zum Soldaten, zum Gewaltanwender erzogen werden. In den meisten Fällen geschieht das wiederum mit Formen von Gewalt. Diese Formen tauchen dann in den Jahresberichten wieder auf, wenn ein Gewaltopfer (Rekrut) sich traut, dagegen etwas zu unternehmen.

Gängige Gewaltformen, die als Einzelfälle dargestellt werden und seit 50 Jahren fast in jedem Jahresbericht des Wehrbeauftragten erwähnt werden sind:

Innendienst als »erzieherische Maßnahme«: Jeder der beim Militär war kennt es: Putzen bis zum abwinken, die halbe oder die ganze Nacht. Wenn es für die militärischen Vorgesetzen nicht ausreichend sauber ist wird weitergeputzt. Bei der Kontrolle beispielsweise von Betten und Spinden wird dann wieder Unordnung gemacht. Solche Maßnahmen dienen der Umerziehung des Rekruten. Er wird erzogen zu gehorchen. Wenn er nicht gehorcht, wird er erneut bestraft. Er wird umerzogen, indem er andere Wertvorstellungen eingeprägt bekommt. Er wird verängstigt, weil er seine Abhängigkeit von seinen militärischen Führern vor Augen geführt bekommt.

Strafen für Krankmeldung: Vorgesetzte bestrafen Rekruten, die sich krank melden mit Ausgangssperren, Wochenenddiensten, zusätzlichen Putzdiensten und sonstigen Sonderdiensten. Oft werden Erkrankungen und Verletzungen von Rekruten in der Grundausbildung grundsätzlich als »Drückebergerei« angesehen und die Rekruten werden als solche stigmatisiert.

Kollektivstrafen: Funktioniert ein Rekrut nicht im Sinne des Ausbilders, wird die ganze Gruppe dafür bestraft. Zum Beispiel müssen Ausbildungsgruppen- oder Züge Zusatzdienste verrichten, dürfen erst später ins Wochenende fahren usw. Dies führt häufig dazu, dass der Rekrut, der nicht funktioniert, zum Außenseiter wird und schlimmstenfalls von den »Kameraden« zusätzlich bestraft wird. Nicht selten enden derartige Strafaktionen in der Anwendung von Gewalt. In den sechziger Jahren gab es für solche Gewaltformen innerhalb der Bundeswehr feste Begrifflichkeiten. Den »Heiligen Geist« bringen bedeutete, dass ein Soldat von den anderen Soldaten während der Nachtruhe in seinem Bett in der Dunkelheit verprügelt wurde. So konnten die Angreifer nicht identifiziert werden und das Opfer hatte seine »Lektion« für ein vorangegangenes Fehlverhalten bekommen.

Misshandlungen bei Übungen: Wie im Fall Coesfeld kommt es bei Übungen in der Kaserne oder auf dem Truppenübungsplatz häufig zu gewalttätigen Exzessen. Da die Übungen das Erlernen und Anwenden von Gewalt implizieren und die Hemmschwelle herabsetzen, ist der nächste Schritt nicht mehr weit. Wer Krieg, Mord und Todschlag übt, kann in einem abgeschlossenen Zirkel schnell den Bezug zur zivilen Realität verlieren. Dazu kommt noch, dass bei einer Übung keine Kontrolle von Außen möglich ist.

Im Fall Coesfeld hat sich keiner der 163 betroffenen Soldaten beschwert. Nur durch Zufall wurde der Sachverhalt bekannt und aufgedeckt. Ohne dass man sich zu weit aus dem Fenster lehnt, kann man sicher sagen, dass unter solchen Umständen die Dunkelziffer um einiges höher sein muss, als die alljährlich gemeldeten mehr als hundert Einzelfälle.

Wie kommt das? Mit hoher Wahrscheinlichkeit liegt es an der Besonderheit des Militärs. Wie oben angedeutet werden die Rekruten in militärischem Sinne umerzogen. Gewalt wird in unterschiedlichen Formen alltäglich, deshalb muss man sich über alltägliche Gewalt auch nicht mehr so sehr wundern, geschweige denn beschweren. Um nicht unter zu gehen, passen sich die Rekruten in das gewaltbereite und gewalttätige militärische System ein. Lieber kollektiv bestraft werden, als Ursache der Kollektivstrafe sein. Unter dem Synonym der Kameradschaft (wir sitzen alle im gleichen Boot) lässt sich Erniedrigung und möglicherweise Misshandlung auch leichter ertragen. Und wenn die Rekruten aus ihrer Opferrolle emporsteigen, weil sie nach der Grundausbildung militärische Handlungen und Gewohnheiten übernommen haben, können sie gegenüber den nachfolgenden neuen Rekruten selbst zu Tätern werden. Und Täter schweigen bekanntlich über ihre Taten.

Coesfeld ist überall!

Michael Behrendt, Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär

www.kampagne.de

 

Die Radiosendung zum Thema:

Rotdorn-Radio vom 20. Novmber 2006 >> "Die Auslandseinsätze der Bundeswehr"

Zu Gast war im Studio Ralf Siemens von der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär.