Eine Tagesration für die Bewohner der Motardstrasse

 

Erstaufnahme und Ausreise in der Motardstraße, Berlin-Spandau

Willkommen und Abschied

Ihr altes Leben zurücklassend, erreichen Flüchtlinge und MigrantInnen Deutschland. Eine mögliche Endstation ihrer Reise: die Zentrale Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber in der Motardstraße 101 a, Berlin-Spandau. Seit einiger Zeit wird die Aufnahmeeinrichtung jedoch nicht nur für das »Willkommen«, sondern auch für den Abschied genutzt.

Bei der »Zentralen Aufnahmeeinrichtung« han­delt sich genau genommen um eine vorläufige Endstation, denn per Gesetz darf die Unterbringung von MigrantInnen in der »Erstaufnahme« maximal für drei Monate erfolgen. Erstaufnahme bedeutet Vollverpflegung (hierfür besteht ein Vertrag mit dem Service-Riesen Dussmann, der neben Reinheit und Sicherheit eben auch Verpflegung zu bieten hat), kein Bargeld und gesetzliche Regelungen bis ins kleinste Detail.

Sechs Quadratmeter Wohnraum stehen jeder Person zu (kurzer Vergleich: ein deutscher Polizeihund hat laut Gesetz acht Quadratmeter Platz in seinem Zwinger). In der Motardstraße ist sicherheitshalber die genaue Quadratmeterzahl der Zimmer an die Türen geschrieben. Manchmal haben die BewohnerInnen Glück und bekommen ein, zwei Quadratmeter mehr als vom Gesetzgeber vorgesehen. Darauf weist die Wohnheimleitung hin.

Der Heimleitung und dem Träger, der Arbeiterwohlfahrt Berlin-Mitte, gehe es überhaupt darum, für alle »den Aufenthalt so angenehm wie möglich« zu gestalten, stellt auf Nachfrage des Rotdorns Horst Renner, ehrenamtliches Vorstandsmitglied, klar. Nur sei das bei derzeit 44 Nationalitäten, die unter den Dächern der vier Wohncontainer leben, nicht immer so einfach. Die Fluktuation sei hoch, man wäre in der Hauptsache mit Schadensbegrenzung und Reparaturen beschäftigt. Viel Zeit für(s) (Hinter)Fragen bleibt da kaum.

Dazu kommt, dass die Motardstraße inzwischen pickepackevoll ist, von 400 Plätzen (Angabe der Heimleitung) sind momentan 382 besetzt. Darunter leben 61 Kinder und Jugendliche in der Einrichtung. Auf 100 Personen kommt je einE SozialarbeiterIn, ausgestattet mit einer sprachlichen Variabilität von Deutsch, Englisch und ein bisschen Französisch und Russisch. Zur Zeit leben vorwiegend allein stehende Männer, aber auch junge Mütter mit ihren Babys aus Vietnam in der Einrichtung der AWO Berlin-Mitte. Es bleibt fraglich, ob sie sich in einer der genannten Sprachen mit den MitarbeiterInnen verständigen können.

Die Bedürfnisse der BewohnerInnen spielen insgesamt eine stark untergeordnete Rolle. Wenn der Gesetz­geber, konkret der Berliner Senat, sowieso alles vorschreibt und regelt, sich nicht fragt, unter welchen Bedingungen die Menschen leben müssen, die zu »Gast bei Freunden« sind, warum sollten dann diejenigen, die die Regeln umsetzen, Fragen stellen und Bedürfnisse erkennen? Gibt es dazu irgendwo ein Gesetz?

Apropos Gesetz. Seit mehr als einem Jahr (nach Angaben der Heimleitung) wird die Motardstraße nicht nur zur Erstaufnahme genutzt. Dank des Paragraphen 1a des Asylbewerberleistungsgesetzes können die Bezirksämter MigrantInnen auch zurück in die Motardstraße schicken. Der Paragraph 1a schafft diesen »interessanten« Handlungsspielraum auf Grundlage von Unterstellungen: Leistungen können eingeschränkt werden, wenn angenommen werden muss, dass ein Migrant nur nach Deutschland gekommen ist, um soziale Leistungen zu beziehen oder die Herkunft bewusst verschleiert wird, um einer Abschiebung zu entgehen.

Im Klartext heißt das, dass es im Ermessen der jeweiligen Sachbearbeiter liegt, wie und wann sie die Leistungen soweit zusammenkürzen, dass nur noch grundlegende Sachmittel wie Nahrung oder Kleidung gestellt werden müssen. Da in Berlin nur in der Motardstraße Vollverpflegung besteht, sind die Sacharbeiter leider gezwungen, die ihnen Verdächtigen dort unterzubringen. Für die Verdächtigen gilt das Gleiche wie für alle anderen: Sie benötigen einen Ausweis, um den Ein- bzw. Ausgang des Geländes zu passieren, Besuche sind bis 22 Uhr erlaubt, sie sind in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, da sie mitten in einem Industriegebiet leben und kein Geld für Fahrscheine haben und wenn sie überhaupt etwas essen wollen, müssen sie vor Ort sein, wenn die Verpflegung verteilt wird.

Den BewohnerInnen bleiben wenige Möglichkeiten, ihr Leben »so angenehm wie möglich« und vor allen Dingen selbst bestimmt zu gestalten. Diejenigen, die es können, solidarisieren sich, kümmern sich um ihre Nachbarn oder deren Kinder. Es gebe sogar Bewohner, die in der Motardstraße bleiben wollen, offenbart die Heimleitung. Woran das liegt, ist schwer zu klären. Sei es die Angst vor dem, was als nächstes kommen mag oder erste freundschaftliche Kontakte oder doch die knallblauen Stahlschränke in den 17,83 Quadratmeter großen Mehrbett-Zimmern ...

Fakt ist, dass es im vergangenen Jahr, von Februar 2006 bis Februar 2007, zu insgesamt zwölf direkten Abschiebungen aus der Motardstraße kam. Davon waren drei Abschiebungen so genannte freiwillige Heimreisen.

Offenbar möchte doch nicht jedeR BewohnerIn in der Motardstraße bleiben.

Dass das Land Berlin unter der rot-roten Regierung gemeinsam mit den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Sachsen und Thüringen den Verzicht auf die Einrichtung von Ausreisezentren erklärte, scheint zu den verblassenden Erinnerungen zu gehören.

AnG