Lateinamerika: Evo Morales gewinnt die Wahl

Neue Hoffnung für Bolivien

Bolivien ist das zweitärmste Land Südamerikas. Es ist das Land mit den größten Einkommensunterschieden der Welt. Von den 8 Millionen Einwohnern des Landes müssen 3,8 Millionen indianischer Andenbauern mit einem Einkommen von zehn Cent am Tage auskommen. 58 Prozent der Gesamtbevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, obwohl Bolivien ein rohstoffreiches Land ist. Der Bergbau macht 90 Prozent des Exports aus (Erdöl, Erdgas, Zinn und Kupfer).
Die Privatisierung aller staatlichen Betriebe und die vollständige Liberalisierung der Märkte für Auslandsprodukte und –konzerne brachte dem Land eine wachsende Verarmung der meisten Bevölkerungsschichten. Ab dem Jahr 2000 kam es infolgedessen zu zahlreichen Unruhen mit Generalstreiks, Straßenblockaden, Demonstrationen und Besetzungen des Parlaments, in deren Folge über 80 Demonstranten von den Militärs erschossen wurden. Hauptforderungen der Protestbewegung waren die Wiederverstaatlichung der Öl- und Gasindustrie und die Rücknahme der Liberalisierung der Wasserwirtschaft.

Seit Gründung des Staates Bolivien 1825 regierte die weiße Oberschicht, die heute 14 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Jedoch stellen die Indianer, die den Völkern der Aymara, Queschua und den vielen kleinen Indiostämmen des Amazonasbeckens angehören, mehr als 45 Prozent der Einwohner des Landes. Mit dem Gewerkschaftsführer Juan Evo Morales wurde am 18. Dezember vergangenen Jahres der erste indigene Präsident Boliviens gewählt, und das erstmals gleich im ersten Wahlgang. Evo Morales hat kein Abitur. Er ist Kokabauer. Bei seiner Amtseinführung am 22. Januar trug er den Häuptlingsschmuck der Aymara. Selbst bei Staatsbesuchen in Venezuela, Spanien, Frankreich und China tritt der Aymara-Indianer Morales hemdsärmlig in einfacher Leinenhose auf. Genauso volkstümlich propagiert er seine Politik.
Morales versteht sich als Sozialist, feiert die kubanische Revolution, lobt Hugo Chavez , den Präsidenten Venezuelas, und fordert so die einheimische politische weiße Elite und die USA heraus.

Evo Morales will eine Landreform durchsetzen. Die großen ungenutzten Flächen der Großgrundbesitzer in den fruchtbaren Tälern sollen armen, landlosen Bauern zur Verfügung gestellt werden. Die Öl und Gasvorkommen sollen verstaatlicht, bzw. die Einnahmen aus der Lizenzvergabe an ausländische Konzerne sollen deutlich erhöht werden, da Bolivien selbst häufig nicht die technologischen Voraussetzungen zur eigenständigen Ausbeutung und Verarbeitung der Vorräte besitzt. Schließlich will Morales die Rechte der seit Jahrhunderten unterdrückten und ausgegrenzten indianischen Völker mit einer Verfassungsreform grundlegend stärken. Neben besseren Bildungschancen für die weitgehend analphabetischen Ureinwohner soll auch die indianische Kultur auf dem Lande gefördert werden.

In den USA wird die Wahl von Morales scharf kritisiert. Es gibt nicht nur am extrem rechten Rand der politischen Klasse der Vereinigten Staaten Stimmen, die offen die Möglichkeit eines gewaltsamen Sturzes des »faschistischen Regimes Morales« diskutieren. Ins Auge gefasst wird auch die Abspaltung des reichen und spanisch-dominierten Südens von den armen, hochgelegenen nördlichen Provinzen mit einer fast ausschließlich indianischen Bevölkerung. Im Lande selbst stehen die reiche weiße Oberschicht, die Militärs und die Mehrheit der Medien gegen den indianischen, linksgerichteten Präsidenten. Doch blieb bisher die vorausgesagte Plünderung der Dollarkonten, der Verkauf von Immobilien und die Flucht der Reichen ins Ausland aus.
Aber Evo Morales hat auch starke Verbündete im In- und Ausland. Seine Partei, die »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) gewann über 50 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen. Auch bei den erstmals durchgeführten Präfektenwahlen in den neun Regionen des Landes konnte sie in den drei Andenregionen den Präfekten stellen. Der Vorsitzende des Bauernverbandes ist MAS-Mitglied und mit seiner Organisation ein wichtiger Partner bei der kommenden Verfassungs- und Landreform. Der mit Morales gewählte Vizepräsident Garcia Linera ist ein Linksintellektueller, Ex-Guerillero, Essayist und redegewandter politischer Analyst, der die städtische Intelligenz und andere Mittelschichten hinter das Regierungsprogramm der MAS zu sammeln versteht. Neben den fünf anderen linken südamerikanischen Regierungen findet Evo Morales auch im spanischen Premierminister Zapatero einen einflussreichen Unterstützer bei der EU. Wenn es Morales angesichts des weltweiten Kapitalismus gelingt, sozial-, verfassungs- und außenpolitisch brauchbare Kompromisse im Interesse der verarmten Mehrheit des Landes zu finden, besteht große Hoffnung für die Erneuerung Boliviens.

■ Klaus Körner

Hintergrund: Koka, die »Tausendjährige Pflanze der Inkas«

Die Koka ist eine 4.000 Jahre alte Kulturpflanze, der – von ihrer rituellen Bedeutung abgesehen – sogar von der Weltgesundheitsorganisation eine gesundheitsfördernde Wirkung attestiert wird. Doch 1859 gelang es dem Göttinger Chemiker Albert Niemann, aus den Blättern der Koka ein kraftvolles Stimulansmittel und Lokalanästhetikum zu isolieren. Ein weißes Pulver, das zur Modedroge wurde und unter dem Kurznamen Kokain einen tragischen Siegeszug um die ganze Welt antrat.
In der bolivianischen Provinz Chapare, die größtenteils von Urwald bedeckt ist, hatten sich arbeitslos gewordene indigene Minenarbeiter (Mineros) und Kleinbauern (Campesinos) angesiedelt, die im Hochland keine Lebensgrundlage mehr sahen. Sie bauten Koka an, und das nicht nur für die Drogenproduktion. Das Kauen der Kokablätter hat lange Tradition und hilft Hunger, Müdigkeit und Kälte zu verdrängen und ist sehr wirksam gegen die Höhenkrankheit. Koka enthält große Mengen an Kohlenhydraten, Kalzium sowie Vitamin A und Vitamin B2. Es war für die Urbevölkerung bis zur Ankunft der spanischen »Conquistadores« die einzige reichhaltige Kalzium-Quelle.
Bolivien ist der drittgrößte Kokaproduzent der Welt und als solcher im Visier des von den USA initiierten »War On Drugs«. Hohe und höchste Militärs und Regierungsmitglieder waren in die Drogenproduktion verwickelt und entsprechend an immensen Gewinnen beteiligt. Seit 1995 koppelten die USA ihre Entwicklungs- und Militärhilfe an Erfolge in der Drogenbekämpfung. Seitdem richtetete sich der Drogenkrieg immer mehr gegen die eigene Bevölkerung.
Während das Gesetzespaket ursprünglich Kompensationszahlungen für die Vernichtung von Kokafeldern vorsah, hat es sich »in ein reines Repressionsinstrument verwandelt«, erklärt Veronica Ramos Cachi von der Menschenrechtsorganisation CASDEL. Die Liste der von ihr beobachteten humanitären Verbrechen ist lang. Über 50 Tote hat es in den letzten Jahren gegeben. Selbst Kinder wurden bedroht, verhört und geschlagen, und sie mussten immer wieder erleben, wie ihre Eltern von den Soldaten und Paramilitärs schikaniert werden. Viele von ihnen sind traumatisiert und voller Hass.
Der heutige Präsident Evo Morales ist auch Sprecher der Kokabauern. Unter seiner Führung kann es gelingen, mit der legalen Vermarktung von Koka den »Campesinos« eine neue Lebensgrundlage zu schaffen. Die »Tausendjährige Pflanze der Inkas« hat besonders für die pharmazeutische Industrie eine große Bedeutung.

Quelle: terre des hommes