International: Zur aktuellen »Kampf der Kulturen«-Debatte

Der neue Antiislamismus

Die politischen Scharfmacher, die den Kampf der Kulturen herbeisehnen, sei es Osama bin Laden, sei es der rechtspopulistische italienische Reformminister Calderoli mit einer der Mohammed-Karikaturen auf dem T-shirt oder Edmund Stoiber mit seiner »reinrassigen« Leitkultur, sie alle bedienen einerseits Vorurteile und Stammtisch-Parolen, andererseits die blinde Wut der Ausgebeuteten und Unterpreviligierten. Fast jeden Tag klagt irgendwo in Deutschland ein selbsternannter »Abendländer« Muslime an. Der wahre Kern dieser Anklage besteht darin, dass die Muslime heute in Europa Fremde fremden Glaubens mit fremden Sitten und Gebräuchen sind. Aber müssen wir nicht in einer immer enger zusammenrückenden, durch Kommunikationssysteme vernetzten Welt das uns unvertraute und deshalb unheimliche Fremde unvoreingenommen betrachten und respektieren?

Fundamentalismus

Rund zwei Milliarden Menschen auf der Welt bekennen sich als gläubige Muslime zu Allah und zu Mohammed seinem Propheten. Jede der großen Religionen produziert häufig entgegen den Lehren ihrer Stifter Unfreiheit und Fanatismus. Heute spricht die Öffentlichkeit jedoch überwiegend nur über den islamischen Fundamentalismus. Dabei erleben wir gerade in George W. Bush einen Vertreter des christlichen Fundamentalismus. In seinen weltanschaulichen »Sprüchen« teilt er grob vereinfachend die Welt in Gut und Böse ein und ruft die »freie Welt« zur Vernichtung des Bösen im Namen seines Glaubens auf. Christliche US-amerikanische Lebensschützer bedrohen das Leben von Ärzten, die auf Wunsch unglücklicher Frauen Abtreibungen vornehmen wollen. Christliche Fundamentalisten leugnen die Darwinsche Entwicklungslehre und verbrennen Schulbücher, die diese wissenschaftlich bewiesene Tatsache enthalten. Der Vatikan erklärt im Namen des christlichen Glaubens Homosexualität für eine Krankheit. Israelische rechtsextreme Parteien fordern im Namen ihrer Religion ein Großisrael und wollen alle Palästinensergebiete annektieren. Die jüdischen Fundamentalisten verbieten die Heirat mit Nicht-Juden u.s.w..
Auch der islamische Fundamentalismus gebärdet sich intolerant und militant. Jedoch ist wahrlich nicht jeder gläubige Moslem ein Fundamentalist, ebensowenig wie nicht jeder Katholik die offizielle Meinung seiner Kirche vertritt, man müsse von Rom abweichende theologische Auffassungen mit Lehr- und Redeverbot belegen wie zu Zeiten der heiligen Inquisition.

Terrorismus

Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy schrieb kurz nach dem 11. September 2001 in der FAZ (28.09.01) unter dem Titel »Wut ist der Schlüssel«: »Könnte es sein, dass die finstere Wut, die zu den Anschlägen führte, nichts mit Freiheit und Demokratie zu tun hat, sondern damit, dass amerikanische Regierungen genau das Gegenteil unterstützt haben – militärischen und wirtschaftlichen Terrorismus, Konterrevolution, Militärdiktaturen, religiöse Bigotterie und unvorstellbaren Genozid (außerhalb Nordamerikas)?« Die USA trauerten im Herbst 2001 um mehr als 3000 unschuldige Menschen. Fünf Jahre zuvor jedoch hatte ihre UNO-Botschafterin Frau Albright über den Erfolg der Irakpolitik ihres Landes erklärt, die 500 000 irakischen Kinder, die infolge des amerikanischen Wirtschaftsembargos gestorben sind, seien, alles in allem, ein nicht zu hoher Preis für diese Politik gewesen (FAZ vom 28. 9.. 2001).
Diese politische Weltsicht greift Arundhati Roy an. Es geht ihr
»...um die willkürliche Unterscheidung zwischen Zivilisation und Barberei, zwischen Ermordung unschuldiger Menschen oder Krieg der Kulturen mit Kollateralschäden. ...Wie viele tote Iraker sind notwendig, damit es besser zugeht auf der Welt? Wie viele tote Afghanen für jeden toten Amerikaner? Wie viele tote Frauen und Kinder für einen toten Mann? Wie viele tote Mudschaheddin für einen toten Investmentbanker?«
Der Westen bestimmt, wer Terrorist ist und wer Verteidiger der kapital­istischen Frei­heit. Nicht die US-Bomber über Belgrad, über dem Irak oder Afghanistan, nicht die Mordkommandos der Russen in Tscheschenien oder der Israelis im Gaza-Streifen und in der Westbank sind Terrorismus, nein, nur die Selbstmordatten­täter von New York, Jerusalem oder Bagdad sind Terroristen. Jeder Krieg, jede Gewalt, jedes illegale Gefängnis, jeder rechtsfreie Raum darf im 21. Jahrhundert kein Mittel der Politik mehr sein. Zur islamischen Religion gehört der Terrorismus ebensowenig, wie zum christlichen Glauben die Kreuzzüge. Islam heißt wörtlich »Ergebung«, der Stamm des Wortes kommt von »salama«, was Friede bedeutet.

Frauenrechte

Blickte die über die Muslime den Kopf schüttelnde Feministin einmal aus der Perspektive der muslimischen Welt auf unsere Gesellschaft, so tauchten vor ihrem geistigen Auge gewiss manche Ungeheuerlichkeiten auf: Stellen wir uns vor, in Kairo oder Kabul gäbe es Gruppen gebildeter Kopftuchträgerinnen, die Vereine zur Rettung der westlichen Frauen gegründet hätten. Ihrer Sorge um die westliche Frau läge die Tatsache zugrunde, dass allein in Deutschland etwa eine Millionen Frauen z. T. lebensgefährlich an Magersucht und anderen Formen von Essstörungen erkrankt sind, weil sie nicht dem »Schönheitsideal« der Regenbogen-Presse entsprechen. Ferner treibt sie zu ihrem Engagement die konstant hohe Gewalt gegen Frauen in Europa und den USA. Schließlich haben diese bekopftuchten Frauen zur Kenntnis nehmen müssen, dass unzählige westliche Männer als Sextouristen durch die Welt jetten, oft minderjährige Mädchen aus fernen Ländern missbrauchen und traumatisieren und damit ihren Ehefrauen Kummer und Schande bereiten. Um sich über unsere hoch entwickelte Zivilisation umfassend zu informieren, schauen diese islamischen Frauenrechtlerinnen auch die Shows an, die nachmittags im Fernsehen laufen, also Formate wie die »Oliver-Geissen-Show«, in denen Tag für Tag junge Menschen gegeneinander aufgehetzt werden, um Themen zu diskutieren wie »Hilfe, mein Freund kann nur anal!«.

Natürlich entspricht die Stellung der Frau im Islam nicht unseren heutigen Vorstellungen. Aber vor mehreren Jahrzehnten herrschten in weiten Teilen Europas ebensolche traditionelle Lebensansichten über die Rolle der Frau: keine voreheliche Sexualität, Gehorsamsheirat, Verbot der Scheidung, Frauen haben dem Ehemann untertan zu sein, kein Wahlrecht (in Frankreich erst seit 1945). In vielen Kulturen außerhalb der islamischen Welt erlangten Frauen bis heute nicht die Spur von Gleichberechtigung. In Asien werden Millionen junger Mädchen verkauft und der Prostitution zugeführt. Dennoch kommt es uns nicht in den Sinn, deshalb die asiatischen Religionen und Kulturen zu verdammen? Denn eigentlich interessiert das Schicksal von Frauen unsere journalistisch tätigen »Berufsfeministen« nicht. Sie wollen nur einige Lebensgeschichten von Musliminnen in den Medien gut vermarkten. Doch die Lebenssituation von Millionen Frauen und Mädchen, die beispielsweise wie Haussklaven von begüterten Frauen in islamischen, christlichen, jüdischen und buddhistischen Ländern ausgebeutet werden, lohnt die Skandalisierung nicht. Darüber nachzudenken, würde bedeuten, das schreiende Unrecht wahrzunehmen, in das wir auf vielfältige Weise gesellschaftlich verwickelt sind.

Legitimationsgrundlage

Nachdem das Feindbild Kommunismus als durchschlagendes Motiv für die Aufrüstung weggebrochen ist, suchte der militärisch-industrielle Komplex des Westens dringend nach einem neuen Feindbild. Der heutige Antiislamismus dient ihm als Legitimation für eine aggressive politisch-militärische Strategie zur Sicherung von Rohstoffen und Absatzmärkten. Diese Strategie funktioniert jedoch nur, wenn in der Öffentlichkeit des sog. christlichen Abendlandes die Glut eines neorassistischen Ressentiments (Vorurteil) entfacht wird. Je weniger die Menschen ihre Lebenswelt – wirtschaftliches, politisches und militärisches Handeln – noch verstehen, umso besser funktioniert der propagierte Antiislamismus. Wir kommen mit dem Leben und der Religion unserer muslimischen Mitbürger in Berührung, die Medien berichten über die islamische Welt, den Terrorismus und die Menschenrechtsverletzungen. Mitten in dieser Informationslawine fragen die Menschen ratlos geworden nach Orientierung. Für sie bietet der Antiislamismus eine absolut griffige, klare, zumindest oberflächlich nachvollziehbare Erklärung unserer Welt. Die Europäer wie die US-Amerikaner verwandeln sich angesichts des »finsteren Islam« in die Speerspitze der Zivilisation. Die Abendländer werden zu lauteren Tugendwächtern, rational denkenden Prakmatikern und Partisanen des Humanismus. Nie fühlen die Menschen des Westens ihre Überlegenheit stärker als dann, wenn sie ihre gesammelten Ratlosigkeiten, die pathologischen Widersprüche ihrer Gesellschaft sowie die aberwitzige Gewalt, die hinter ihnen liegt und die im Namen höherer, fundamentalistischer Werte von ihren Regierungen immer noch ausgeübt wird, wenn sie dies alles auf den Islam projizieren dürfen.

■ Klaus Körner