Landesverteidigung am Hindukusch?

Kabul. Hindukusch. Afghanistan. Vertrautes Gebiet, vertrautes Terrain möchte mensch meinen. Fast täglich finden sich Meldungen und Berichte über dieses Land in den Tagesmedien. Oft sind es Reportagen von im Militär »eingebetteten« Journalisten, die in Landsermanier verfasst sind. Oder Berichte, wenn ein Bundeswehrsoldat ums Leben gekommen ist. Über die aktuelle Entwicklung in Afghanistan erfährt die Öffentlichkeit aber nur wenig. Allerdings wird sie darauf vorbereitet, dass das Ende des Einsatzes der Bundeswehr nicht in Sicht ist. Und mit weiteren Toten unter den deutschen Soldaten müsse gerechnet werden.

Seit fast 30 Jahren bef indet sich Afghanistan im Kriegszustand. Kriegerische Auseinandersetzungen und das Fehlen einer staatlichen Zentralgewalt prägen die Gesellschaft, der Alltag ist durch Plünderungen, Vergewaltigungen und andere Gewalttaten charakterisiert. Eine Realität, die Afghanistan mit vielen anderen Gebieten dieser Welt teilt.

Das Engagement der USA und europäischer Staaten in Afghanistan ist aus geostrategischer Sicht erklärbar. Afghanistan liegt zwischen Pakistan und Iran, hat eine kurze Grenze mit China und eine über 2000 Kilometer lange Grenze zu den zentralasiatischen Staaten Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. Es ist das Tor zu Zentralasien. In Turkmenistan sind die großen Gasvorkommen zwar relativ leicht auszubeuten, aber das Gas muss erst über weite Entfernungen transportiert werden, um auf dem Weltmarkt zu gelangen. Als Transitland nimmt Afghanistan eine Schlüsselstellung ein. Bereits in den 1990er Jahren gab es Verhandlungen zwischen dem Talibanregime und US-F irmen zum Bau einer Gaspipeline von den turkmenischen Gasfeldern zum Arabischen Meer. Ende 2002, der Weg zum Abschluss der Verhandlungen war frei gebombt, kam es zur Vertragszeichnung. Und auch im Hinblick auf das weitere westliche Agieren gegenüber dem Iran ist Afghanistan unter strategischen Gesichtspunkten von erheblicher Bedeutung. Eingekeilt zwischen dem Irak und dem Staat am Hindukusch bef indet sich Iran in einer Zweifrontensituation.

»Anti-Terror-Krieg«

Im Oktober 2001 begannen US-Streitkräfte, unterstützt durch Großbritannien, mit Bombardierungen auf Stellungen der Taliban und der „Al-Qaida“. Binnen weniger Wochen brach das Talibanregime zusammen. Eigene Bodentruppen brauchten die USA nicht nennenswert einzusetzen. Sie bedienten sich der innerafghanischen „Nordallianz“, die den Taliban 1996 beim Kampf um die Herrschaft unterlegen war und sie seither bekämpfte.

Dieser Angriff, öffentlich als Antwort auf die Anschläge vom 11. September 2001 verkauft, war durch die US-Administration bereits vorher geplant. Nicht »Kampf gegen den Terror«, vielmehr Kampf um eine neue Weltordnung ist ihr zentrales Leitmotiv. Dabei: »unsere« Jungs. Mit Vorratsmandaten, die seit November 2001 der Bundestag jeweils für ein Jahr erteilt, hat die Bundesregierung die Ermächtigung zum Einsatz mit bis zu 2 800 Soldaten im Nato-Gebiet, der „arabischen Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nord-Ostafrika sowie der angrenzenden Seegebiete“ erhalten, um, so der off izielle Auftrag, „Terroristen auszuschalten, Terroristen gefangen zu nehmen sowie Dritte dauerhaft von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abzuhalten“.

Rechtsgrundlage für diese Bundeswehr-Einsätze sollen Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen in Verbindung mit der Resolution des Sicherheitsrates 1368 und der nach wie vor geltende, vom Nato-Rat ebenfalls am 12. September 2001 festgestellte, »Bündnisfall« sein. Da die Anschläge vom Tag zuvor als ein bewaffneter Angriff auf die USA gewertet werden,

greife das »naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung«. Allein diese Feststellung verdient ein Kopfschütteln. Dieser Argumentation trotzdem folgend, muss Artikel 51 vollständig gelesen werden. Das Recht auf Selbstverteidigung darf völkerrechtlich nur so lange ausgeübt werden, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“ Vier Jahre »verteidigen« sich die USA und die Nato jetzt schon – ohne entsprechende Kontrolle oder Sanktionierung durch den Sicherheitsrat, ein eindeutiger Verstoß gegen das Völkerrecht, ebenso Bruch des Grundgesetzes, wonach die „allgemeinen Regeln des Völkerrechtes Bestandteil des Bundesrechtes (sind)“.

In Afghanistan sind im Rahmen der Operation Enduring Freedom laut Mandaterteilung bis zu 100 Soldaten des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr im Einsatz. Diese Elitesoldaten mit der Lizenz zum Morden sind Teil der US-geführten Kampftruppen mit gegenwärtig 19 000 bis 20 000 Soldaten, die vornehmlich im Süden und Osten Afghanistans zum Kriegseinsatz kommen. Von diesen Einsätzen gibt es wenig Berichte und noch weniger Bilder. Das Jahr 2005 ist das blutigste Jahr für die USA in Afghanistan. Bei den zunehmenden Kämpfen sind bis November 87 US-Soldaten ums Leben gekommen, fast die Hälfte der insgesamt seit dem Einmarsch getöteten 186 GIs. In welcher Weise deutsche Soldaten bei den Kämpfen dabei sind, ob sie Gefangene machen, die sie den Folterern ausliefern, erfahren weder Parlament noch Öffentlichkeit.

ISAF

Im Dezember 2001 beschlossen Bundesregierung und Bundestag die Entsendung von bis zu 1 200 Soldaten. Das Mandat zur Beteiligung der Bundeswehr an der Nato-geführten „International Security Assistance Force“ (ISAF) ist anfänglich auf sechs Monate und auf Kabul und Umgebung begrenzt gewesen. Völkerrechtliche Grundlage der Sicherheitsunterstützungstruppe sind Beschlüsse des Sicherheitsrates. Danach hat ISAF den Auftrag, für die Sicherheit der afghanischen Übergangsregierung, des UN-Personals und anderen internationalen Zivilpersonals zu sorgen.

Vier Jahre später tragen bereits 2 400 der insgesamt etwa 9 200 ISAF-Soldaten deutsche Uniformen. Aber auch die Verdoppelung der Bundeswehrtruppe ist noch nicht genug. Im September 2005 wurde nicht nur der Bundeswehreinsatz verlängert, sondern abermals Einsatzraum und Truppenstärke erweitert. Mit bis zu 3 000 Soldaten kann die Bundeswehr im gesamten Territorium Afghanistans operieren, wenngleich der geograf ische Schwerpunkt noch in Kabul und den nördlichen Regionen liegt. Die BRD hat sich zur Führungsnation der ISAF (Lead Nation) entwickelt und ist der größte Truppensteller.

Die Ausweitung des Einsatzgebietes entspricht einem Wunsch der Nato, in der die BRD ja nicht unwesentlichen Einfluss und als erster Truppensteller „Hier“ geschrien hat. Insgesamt soll, so der Nato-Beschluss im Dezember 2005, ISAF auf 16 000 Soldaten anwachsen und auch »robuster« ausgerüstet und eingesetzt werden. Luftmobile Kampfreserven sollen bei den zu erwartenden Auseinandersetzungen im Osten und Süden Afghanistans schnell zur Stelle sein. Eine Trennung der beiden Einsätze, ISAF und Enduring Freedom, soll formal weiterhin bestehen bleiben. Darauf hat insbesondere die Bundesregierung Wert gelegt, um den »humanitären« Charakter des Stabilisierungseinsatzes nicht zu verlieren. Krieg führen bekanntlich nur die anderen.

Vier Jahre Militäreinsatz – eine vernichtende Bilanz. Die Macht der Warlords und Drogenbarone ist gestärkt worden. In ihren Diensten stehen etwa 100 000 Bewaffnete, darunter auch Söldner aus den USA und Australien. Sie sichern und kontrollieren ihre jeweiligen Machtbereiche. Unter dem Schutz der ISAF hat sich Afghanistan zum Drogenstaat Nummer Eins entwickelt. Nach UN-Angaben ist die Opiumproduktion 2004 binnen eines Jahres um 17 Prozent auf 4 200 t, der Mohnanbau um 64 Prozent (!) angestiegen. 87 Prozent des Weltrohopiums stammen aus Afghanistan. Aber nicht nur die Drogenbarone konnten ihren Einfluss ausweiten. Auch die Herrschaft der Taliban ist nicht gebrochen. Etwa 35 Prozent des afghanischen Territoriums stehen unter ihrer Kontrolle. Vorzeigeprojekte, eine wieder eröffnete Schule oder ein Krankenhaus, vornehmlich in Kabul, täuschen darüber hinweg, dass sich in weiten Teilen Afghanistans nichts zum besseren gewendet hat.

Das deutsche Engagement in Afghanistan dient mehreren Zielen. Es demonstriert nicht nur die Solidarität gegenüber den USA, sondern dient vor allem als Ticket für den deutschen Anspruch auf weltpolitisches Mitreden. Nebenbei hat es auch US-Begehrlichkeiten nach einer deutschen Beteiligung am Irakkrieg abwehren helfen. Denn die Bundeswehr in Afghanistan ist militärisch Hilfstruppe des Pentagons und führt direkt zu einer Entlastung der US-Streitkräfte in Afghanistan, aber auch im Irak. Dies gilt nicht für das Kommando Spezialkräfte, dessen geheimer Einsatz von 100 Soldaten für die USA wohl wertlos ist. Hier gibt es ein eigenes Interesse. Es dient der Einsatzbereitschaft des Elitekommandos. Für Militärs gibt es keine bessere Übung als den konkreten Einsatz.

Dass es der Bundesregierung in Afghanistan nicht um Menschenrechte, um Demokratie oder ähnliches geht, zeigt das Beispiel Usbekistan. Seit Februar 2002 nutzt die Bundeswehr neben andere Nato-Staaten in Termes einen Flugplatz, um ihre Truppen in Afghanistan zu versorgen. Dass Usbekistan durch ein übles Regime regiert wird, stört dabei nicht. Dass die EU im Oktober 2005 gegen Usbekistan Sanktionen, ein Waffenembargo und ein EU-weites Einreiseverbot für Personen erlassen hat, die für „Gewaltanwendung direkt verantwortlich sind“, stört offensichtlich auch nicht. Im Mai waren Proteste der Bevölkerung in der Stadt Andischan blutig niedergeschlagen worden. Nach off izieller Darstellung gab es 187 Tote, Menschenrechtler sprechen von bis zu eintausend Opfern. Bei den seit November 2005 laufenden geheimen Prozessen im Zusammenhang mit dem Aufstand sind Haft­strafen zwischen 12 und 22 Jahren ausgesprochen worden. Anhaltende Kritik seitens der USA und anderer europäischer Staaten an den Menschenrechtsverletzungen führten zu ihrem Rauswurf aus Usbekistan.

Nur Deutschland konnte sich mit der usbekischen Regierung im Dezember 2005 auf eine langfristige Nutzung des Militärstützpunkts Termes einigen. Der parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium Pflüger nannte die Einigung „einen großen Erfolg“. Eine Hand wäscht die andere. Als Lohn für die Flugrechte wurden usbekische Off iziere in Deutschland ausgebildet, „Herstellungsausrüstung für kleinkalibrige Munition“ wurde geliefert und die Bundeswehr überließ dem usbekischen Militär Sanitätsmaterial. Und trotz der EU-Sanktionen konnte der usbekische Innenminister Almatow eine Klinik in Hannover aufsuchen, aus »humanitären Gründen«, wie es hieß.

Der vorgebliche Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist militärisch zum Scheitern verurteilt. Der Krieg gegen Afghanistan (und Irak) hat weder die gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne von Sicherheit und Wahrung von Menschenrechten verbessert noch erreicht, dass dem Feind „Al-Qaida“ das Rückgrat gebrochen wurde. Nicht umsonst wird von einem unbefristeten Militäreinsatz geredet. Die Bundeswehr muss aus Afghanistan abgezogen werden. Ihre Teilnahme im Rahmen von ISAF und Enduring Freedom ist machtpolitisch, nicht sicherheitspolitisch oder humanitär begründet. Und machtpolitisch ist die Bundeswehr ein Instrument, um »nationale« Interessen auf den kommenden Kriegsschauplätzen durchzusetzen. Um sie dazu zu befähigen, bedarf es der Normalität militärischer Einsätze – für die gesellschaftliche Akzeptanz als auch für die Entwicklung militärischer Fähigkeiten. Denn die laufenden Einsätze der Bundeswehr im Ausland sind geradezu existenziell. Nur durch diese wird die Truppe auf kommende Aufgaben weltweiter Interventionen strukturell, personell und in ihrer Ausrüstung als »Einsatzarmee« ausgerichtet.

Ralf Siemens