Bundespräsident Lübke (3.v.l) 1944

Bundespräsident Lübke in den 60ern

Kiesinger: Propagandaerfahrung aus NS-Zeiten

 

NS-Aktivisten in Bonner Diensten

„Es ist unser unbeugsamer Wille, den deutschen Militarismus und Nationalsozialismus zu zerstören ... Wir sind entschlossen, alle Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen und einer schnellen Bestrafung
zuzuführen ...“
(aus der Krim-Deklaration der Antihitlerkoalition 1944)


Bei den anstehenden Feiern des 60. Jahrestages der Befreiung Deutschlands vom NS-Regime, im Erinnern an die Millionen Ermordeter in der Sowjetunion, in Polen und Frankreich, an die industrielle Vernichtung der europäischen Juden, Sinti und Roma, darf die Frage nach den Jahren danach nicht den Sonntagsreden geopfert werden. Galt das Streben der sich bald verfeindenden Mächte der Antihitlerkoalition und ihrer deutschen Vollstrecker einem ehrlichen Neuanfang in den einzelnen Besatzungszonen und späteren Staatsgebieten oder einer schleichenden Restauration der alten, Hitler erst ermöglichenden bürgerlichen Gesellschaft?
Der Kalte Krieg, der die Antihitlerkoalition in die Westmächte und die Sowjetunion spaltete, sorgte dafür, dass die westlichen Alliierten aus ihrem Antikommunismus heraus viele große und kleine Nazis in ihre Dienste stellten bzw. den deutschen, sich in den Westzonen bildenden Verwaltungen, die Wiederbeschäftigung dieser Nazi- und Kriegsverbrecher nachsah oder sogar empfahl.
Während in 20 Jahren nach Kriegsende in der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR über 16 tausend Verfahren gegen Nazi- und Kriegsverbrecher eröffnet und mehr als 12 tausend davon mit Verurteilungen abgeschlossen wurden, klagte man in der dreimal so bevölkerungsreichen BRD nur rund 12 tausend solcher Personen an und nur rund fünftausend davon wurden zu meist geringen Haftstrafen verurteilt.
2300 Namen verzeichnet in einer unvollständigen Zusammenstellung das „Braunbuch Kriegs- und Naziverbrecher in der BRD“, das 1968 in der 3. Auflage erschien und Ende der 90er Jahre erneut als Nachdruck wieder aufgelegt wurde.
Bis Mitte der sechziger Jahre standen Hunderte Nazi- und Kriegsverbrecher an den Schalt­hebeln der Macht in der Bundesrepublik:

Bundespräsident (1959-69) Dr. Heinrich Lübke, ehemaliger Bauleiter im Rüstungsministerium, baute für die Gestapo ein Sonder-Konzentrationslager bei Penemünde; er war zuständig für geheime Bauvorhaben des faschistischen Rüstungsministeriums und in diesem Zusammenhang verantwortlich für den „Arbeits-Einsatz“ von KZ-Häftlingen;

Kurt Georg Kiesinger, Bundeskanzler von 1966-69, ehemaliger Mitarbeiter des nationalsozialistischen Auslands-Propaganda-Apparates, arbeitete in einer Abteilung des Rundfunks für das Ausland mit dem Propaganda-Ministerium zusammen und verherrlichte in dieser Funktion den Eroberungskrieg der Deutschen. Als Angestellter des Auswärtigen Amtes machte er schnell Karriere und organisierte als Vertrauter von Ribbentrop und Goebbels Radiostationen in den besetzten Gebieten, um auch dort die faschistische und antisemitische Hetze der Nazis zu verbreiten;

20 Angehörige der Bonner Kabinette, Bundesminister und Staatssekretäre, darunter in den fünfziger Jahren Bundesvertriebenenminister Prof. Dr. Theodor Oberländer (CDU), Teilnehmer am Hitlerputsch 1923 (Marsch auf die Feldherrnhalle in München an der Seite Hitlers und Ludendorffs), nach 1933 Gauamtsleiter in Ostpreußen, auf Wunsch des Hitlerstellvertreters Heß Leiter des berüchtigten „Bundes Deutscher Osten“ (Ziel: Ausrottung der slawischen Volker im Osten, der als deutsches Siedlungsgebiet betrachtet wurde), SA Hauptsturmführer, während des Krieges leitete er als „Ostexperte“ ein von ihm ausgebildetes Sonderbataillon „Nachtigall“, das im Sommer 1941 Massenhinrichtungen in der Ukraine durchführte. Allein in Lwow (Lemberg) kam es in den ersten 6 Tagen nach der Besetzung zur Erschießung von 3000-5000 Frauen, Kindern und Greisen, Oberländer ging in die Geschichte des Vernichtungsfeldzuges gegen die Sowjetunion als der „Henker von Lwow“ ein;

Dr. Hans Krüger (CDU), 1963 Bundesvertriebenenminister im Kabinett Ludwig Erhard, ebenfalls Teilnehmer am Hitlerputsch vom 9.November 1923, nach dem Überfall auf Polen 1940 wurde er Ortsgruppenleiter und Sonderrichter in Konitz (Chojnice), wo er noch in den ersten Monaten mehr als 2000 Todesurteile meist wegen Bagatelldelikten gegen Polen verhängte. Auch er war ein glühender Anhänger der „Ausrottungsideologie“ gegenüber den slawischen Völkern;
Dr. Hans-Maria Globke, Staatssekretär im Bundeskanzleramt unter Konrad Adenauer bis 1963, während der gesamten Nazi-Diktatur war er Beamter des Reichsinnenministeriums, in dieser Eigenschaft entwarf er zahlreiche Gesetze und Verordnungen für das Regime, darunter die sog. Nürnberger Rassengesetze, die die Ächtung und Aussonderung der jüdischen Bürger vorsahen und Bestimmungen, die die Ausrottung der Bevölkerung in den sog. besetzten Ostgebieten sanktionierten.

189 Generäle, Admiräle und führende Offiziere in der Bundeswehr oder in den NATO-Führungsstäben, sowie im Bonner Verteidigungsministerium, darunter General Heinz Trettner, der an der Spitze der Bundeswehr stand. Er machte in der Nazi-Wehrmacht in sieben Jahren eine steile Karriere. Vom Hauptmann zum Generalleutnant, als Offizier der „Legion Condor“ bombardierte er im Auftrag Hitlers die baskische Stadt Guernica, um im spanischen Bürgerkrieg die Franco-Faschisten zu unterstützen. Als Stabsoffizier in Görings Elite-Fliegerstaffel bombardierte er während der Kapitulationsverhandlungen des niederländischen Stadtkommandanten mit der Wehrmacht Rotterdam, für diesen Einsatz erhielt er das „Ritterkreuz“. Nach dieser Heldentat organisierte er die Fallschirmeinsätze für Kreta, Malta, für die Sowjetunion und nach dem Sturz der Mussolini-Regierung für Rom. Auf dem Rückzug aus Italien zerstörte die 4. Fallschirmjägerdivision auf Befehl Generalmajors Trettner Wasser- und Elektrizitätswerke, Dörfer und Brücken. In Florenz sprengte man auf seinen Befehl Baudenkmäler aus der Renaissance, Kirchen und Palazzi. Noch vier Tage nach der Kapitulation der deutschen Heeresgruppe Italien setze der fanatische Durchhaltegeneral den Krieg auf eigene Faust fort und jagte deutsche und amerikanische Soldaten und italienische Zivilisten in den Tod.

11118 hohe Justizbeamte, Staatsanwälte und Richter, darunter den Generalbundesanwalt (höchster Staatsanwealt der BRD) von 1962 Wolfgang Fränkel, vor 1945 stellvertretender Reichsanwalt am Reichsgericht in Leipzig, wo er nachweislich fünfzig Todesurteile gegen Nazigegner verhängte.

244 leitende Beamte des Bonner Auswärtigen Amtes, der Botschaften und Konsulate sind ehemalige Ribbentrop-Diplomaten; (Ribbentrop: NS-Außenminister)

300 Beamte der Polizei und des Verfassungsschutzes, darunter der Nazi-General Reinhard Gehlen, der den Aufbau des Bundesnachrichtendienstes leitete.

In der bundesdeutschen Wirtschaft saßen bald wieder die ehemaligen Wehrwirtschaftsführer des Dritten Reiches an den Schalthebeln der Macht, auch wenn die Konzerne Flick, Krupp, BASF, IG Farben u.a. beim Nürnberger Prozess der Verbrechen gegen die Menschlichkeit überführt waren. Ihre verurteilten Vertreter erhielten bald Haftverschonung oder wurden vorzeitig aus der Haft entlassen. Die auf Schweizer Konten deponierten Milliardengewinne aus der Versklavung der Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge sowie aus den Rüstungsprofiten sorgten auch für das westdeutsche „Wirtschaftswunder“.
Den politischen und juristischen Beamtenapparat des NS-Regimes und seine Verwaltungsexperten übernahmen die Westalliierten nach Ausbruch des Kalten Krieges gern, denn deren Antikommunismus konnte man sich neben ihrem Fachwissen besser dienstbar machen als die Einstellungen der von den Nazis ausgesonderten sozialdemokratischen und linksliberalen Beamten und Führungskräfte, die die Koalition der Antifaschisten aus den Konzentrationslagern, den Gefängnissen und dem Exil nicht einfach für einen verordneten primitiven Kommunistenhass aufgeben wollten. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass die Nazis einen großen Teil der deutschen geistigen, militärischen und politischen Elite umbrachten (führende Köpfe der Weißen Rose, der Roten Kapelle, des 20. Juli u.s.w.), die dann beim Wiederaufbau eines antifaschistischen, demokratischen Deutschlands spürbar fehlten.

Klaus Körner