Am 27.Oktober 2002 gewann nach langem Anlauf die PT (Arbeiterpartei) in Brasilien die Wahl. Der populäre Lula wurde Präsident. Damit begann neben Kuba und Venezuela auch in Brasilien der Versuch, eine sozialere und gerechtere Gesellschaft jenseits der neoliberalen Marktlogik in Lateinamerika zu gestalten. Wir berichteten in der 34.Rotdornausgabe über den Wahlsieg (www.rotdorn.org/rd34-lula.htm).

Nach zwei Jahren ist es nun Zeit eine erste Bilanz zu ziehen. Was änderte sich für die große Zahl von Brasilianer(inne)n, die unter der Armutsgrenze leben müssen? Welche Wahlversprechen wurden gehalten? Konnte Lula einen antikapitalistischen Weg in dem größten Land Lateinamerikas einschlagen? Mit welchen Schwierigkeiten muss er kämpfen? Was kann eine sozialistische Regierung in einer neoliberalen Welt umsetzen?

Wir veröffentlichen zwei Einschätzungen, die sich ergänzen, aber auch zum Teil widersprechen. Zusammengenommen ergeben sie ein detailliertes Bild der Regierungszeit Lulas.


Lulas steiniger Reformprozess

Hoffnung Brasilien?

Der Wahlsieg Lulas im Oktober 2002 und der Regierungsantritt am 1.1.2003 waren das Resultat der Politisierung volksnaher Organisationen (Landlosenbewegung, Gewerkschaften, kirchliche Basisgemeinden der Befreiungstheologie, Frauenorganisationen, Armenviertelinitiativen etc.), wie sie in den 70er Jahren in Brasilien begann. Die Arbeiterpartei (PT) bildete die entscheidende Führungskraft dieser Bewegungen, der sich linke Intellektuelle und ihre Institutionen wie Fakultäten und Institute anschlossen. Nachdem die PT sich mehr als 20 Jahre in der Opposition profilierte, führte sie 2002 ihren Wahlkampf in zurückhaltender Form, um eine breite Allianz oppositioneller Kräfte zu binden. Diese Allianz besaß natürlich zum Teil gegensätzliche gesellschaftliche Vorstellungen und Interessen. Aber nur mit so einem breiten Bündnis war die Präsidentschaftswahl zu gewinnen.

Während ein echter Kurswechsel auf dem Gebiet der Sozialpolitik gelang, waren die Sektoren Finanz- und Wirtschaftspolitik in Strukturen eingebunden, die durch Schuldendienste und Binnen- sowie Außenwirtschaftsverträge langfristig festgezurrt sind. Daher nahm die Ent-Täuschung über die Regierungspolitik 2004 von Monat zu Monat zu. Die Atmosphäre in der Koalitionsregierung wurde immer „ungemütlicher“. Je mehr die PT hohe Verwaltungsposten im Staat besetzte, desto mehr begann sie, das Verwaltungsgebaren der Behörden zu verteidigen und entfernte sich so von ihrer Basis. Prominente Mitstreiter der PT (Arbeiterpartei) und Abgeordnete verließen dieses Kurses wegen des „schlingernden Schiffes“. Nach gut eineinhalb Jahren Regierungsverantwortung vielleicht ein übereilter Schritt, da der Kapitän weiterhin der volksnahe, ehrliche Mann geblieben ist wie bei Ausfahrt des Schiffes.

Demokratisierung und Teilhabe des Volkes
Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Gefahr eines Risses zwischen der PT und den volksnahen Basisbewegungen nicht sehr groß. Trotz aller Kritik im Detail identifizieren sich diese Bewegungen weiterhin mit Lulas linkem Projekt. Solange die PT zwischen dem Handeln der Koalitionsregierung und den Zielen der Basisbewegungen eine Dialogebene bildet, werden die sozialen Bewegungen bemüht sein, für Lulas Erfolg zu arbeiten. So wird der schwierige Übergang zu einem neuen sozio-ökonomischen Modell nicht das theoretische Ergebnis von Kabinetts- und Parteistrategen sein, sondern die Frucht eines demokratischen teilhabenden Prozesses („die neue Grammatik der Macht“), in dem die Basisbewegungen der Regierung die notwendigen Orientierungspunkte vorgeben, die aus den Ängsten und Sorgen des Volkes erwachsen. Lula ist der Überzeugung, dass die Teilhabe und das Engagement des Volkes berücksichtigt werde, wenn er in seinem Rechenschaftsbericht im Dezember 2003 erklärte: „Die Ausarbeitung des Mehrjahresplanes (2004-2007) ist das Ergebnis von Debatten, die Vertreter aus allen Bundesstaaten führten, von 2 170 Institutionen, von Arbeitern und Unternehmern, aus der Stadt und vom Land, von volksnahen Bewegungen, von Wissenschaftlern und Umweltschützern, von Frauen und Schwarzen, aus den Kirchen und Kultureinrichtungen, letztlich von Vertretern der unterschiedlichen und vielfältigen brasilianischen Gesellschaft!“

Fome Zero – Das Null Hunger Programm
In den letzten 20 Jahren haben sich bei der Armutsbekämpfung in Brasilien keine wesentlichen Erfolge eingestellt. Die Armutsbekämpfung war allerdings auch kein ernsthaftes politisches Ziel der herrschenden Eliten. Im Jahre 2001 hatten rund 23% der Familien ein monatliches Pro-Kopf-Einkommen, das
unter einem halben Mindestlohn lag. Im armen Nordosten lag dieser Anteil sogar bei rund 42%. Vergleicht man/frau das Familieneinkommen der reichsten 10% mit dem Einkommen der ärmsten 40%, so hatten die reichsten 10% 1 770 Reais (13,4 Mindestlöhne) zur Verfügung, während die ärmsten 40% mit 80 Reais, 45% eines Mindestlohnes, auskommen müssen. Präsident Lula gewann vor allem mit dem Versprechen die Wahl, entschieden gegen die Massenarmut vorzugehen. Bei seinem Amtsantritt 2003 hat der Präsident ein Programm gegen den Hunger verkündet. Dieses Null-Hunger-Programm soll 44 Millionen (Gesamteinwohnerzahl 175 Millionen) Brasilianerinnen und Brasilianer vom Hunger befreien. Frei Betto, ein bekannter Befreiungstheologe (u. a. das Buch: „Nachtgespräche mit Fidel“), der für dieses Programm mitverantwortlich ist, erklärte: „Alle Familien, die über weniger als 30 Dollar im Monat verfügen, haben das Recht auf zusätzliche Unterstützung des Staates. Es gibt aber nicht nur den Transfer von Einkommen, sondern auch sozialpolitische Maßnahmen wie den Zuschuss zum Schulbesuch der Kinder oder die kostenlose Gesundheitsversorgung, die das Ziel haben, die Menschen zu integrieren. Menschen, die Hunger leiden, sind von der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Menschen sollen durch unsere Sozialpolitik unabhängig und nicht etwa von ihr abhängig werden. Das ist die Herausforderung von Fome Zero“ (Neue Wege, 5/2004, S.122?.).

Sete Zero – Das Null Durst Programm
Das Null-Durst-Programm ist vor allem für den Nordosten Brasiliens wichtig, weil dieses Gebiet immer wieder von großer Trockenheit betroffen ist. Es regnet hier nur wenige Tage, aber dieses Wasser reicht für das ganze Jahr, wenn es in Zisternen gesammelt wird. „Zur nachhaltigen Integration der armen Familien durch dieses Programm gehört, dass sie beim Bau und Unterhalt der Zisternen mitarbeiten“ sagte Frei Betto. Er bezieht sich dabei auf einen Ausspruch des Präsidenten, es sei nicht nur nötig „für Fisch zu sorgen“, sondern auch den Menschen „das Fischen“ zu lehren. Das Ziel solcher Programme, wie das Null-Hunger-Programm und das Null-Durst-Programm ist es, dass die Menschen selber tätig werden, selber ihr Leben in die Hand nehmen, Hilfe zur Selbsthilfe. Der Transfer finanzieller Ressourcen dient dazu, die lokale Wirtschaft anzukurbeln. Die Menschen bauen Häuser oder gründen landwirtschaftliche Familienbetriebe.

Die Agrarreform
Es gibt auch ein Programm zur gerechten Verteilung des Großgrundbesitzes. Zuerst werden die Ländereien des Staates und die unproduktiven, also von ihren Besitzern nicht bewirtschafteten Agrarflächen an landlose Familien verteilt. Auch wenn die Landlosenbewegung (MST) Kritik an der Regierung übt und mit der Geschwindigkeit der Umsetzung des Programms hadert, gibt es konstruktive Beziehungen zwischen der Regierung und der MST, die an der Ausarbeitung des Programms mitgearbeitet hat. Die Umsetzung ist jedoch mit der Verteilung des Landes nicht beendet, wie es noch bei den zaghaften Versuchen der Vorgängerregierung Cardozo üblich war. In den Verteilungsgebieten muss eine entsprechende Infrastruktur geschaffen werden und das geht nicht von heut‘ auf morgen. 6 Millionen Familien haben bereits Land erhalten. Das sind mehr als die Hälfte der hungernden 44 Millionen Menschen. Die Regierung Lula unterscheidet zwischen quantitativer und qualitativer Landverteilung. Qualitativ heißt, dass die Infrastruktur, z. B. Straßenbau und der Zugang zum Markt, gegeben sein muss, damit die neuen landwirtschaftlichen Betriebe auch sinnvoll produzieren können. 60 Prozent der Nahrungsmittel auf den Tischen der Menschen in Brasilien kommen aus kleinbäuerlicher Produktion.

Außenpolitik
Lulas Regierung hat die Außenpolitik von Grund auf verändert und ihr eine lateinamerikanische Zentrierung gegeben. Sie hat den Mercosur (Freihandelszone zwischen Argentinien, Uruguay, Paraguay und Brasilien) reaktiviert und die Gruppe der Andenstaaten in den Freihandel einbezogen. Dagegen hat sie das US-amerikanische Projekt einer von den USA dominierten panamerikanischen Freihandelszone (ALCA) abgelehnt. Lula selbst hat auf der Welthandelskonferenz im mexikanischen Cancun die 20 ärmsten Länder gegen die WTO (Welthandelsorganisation) verteidigt, so dass diese jetzt ihre Regeln überdenken muss. Er hat dadurch Brasiliens Wirtschaft den Weg nach Afrika, Asien und zu den arabischen Ländern geebnet. Lula hat auf internationaler Ebene den durch die westlichen Industriestaaten boykottierten Präsidenten Venezuelas Hugo Chavez in Schutz genommen und George W. Bush klar gemacht, dass Chavez der bestlegitimierteste Präsident eines lateinamerikanischen Landes ist. Ohne Brasiliens Eintreten für Chavez, sagen manche Diplomaten, hätte es schon einen von der CIA inszenierten Staatsstreich in Venezuela gegeben. Jedoch hat Lula keine Möglichkeiten, mit dem IWF (Internationaler Währungsfonds) zu brechen, obwohl das Geld dringend für das Sozialbudget benötigt würde. Brasilien verhandelt mit dem IWF wegen einer Umschuldung und wenigstens teilweisen Schuldentilgung. Lula ist bislang nicht bereit, die Entwicklung Brasiliens den Vorgaben des IWF zu opfern. Jedoch auch Lulas Regierung muss „die Spielregeln des transnationalen Kapitals akzeptieren“ (Ernesto Herera). Das Land agiert nicht im luftleeren Raum.

Fazit
Die breite Allianz der Wahlsieger um Präsident Lula garantiert nur eine Übergangsregierung, der später, so der Wille der PT und ihrer Volksbewegungen, ein anderes sozio-ökonomisches Modell auf der Grundlage einer langfristigen, nachhaltigen Entwicklung in Form von einer radikalen Umverteilung des Reichtums von oben nach unten und einer basisbetonten Demokratisierung der Gesellschaft folgen soll. Man/frau darf also nicht mehr von Lulas erster Koalitionsregierung erwarten, als dass sie die Bedingungen und Voraussetzungen für eine zukünftige Veränderung des Gesellschaftsmodells scha?t. „Es geht darum, nicht den einzelnen Fisch zu ändern, sondern das Wasser auszutauschen“ (Josef Cardijn). Aber wie soll eine Regierung das Wasser austauschen, wenn sie von einem neoliberalen Meer umgeben ist, in dem globale agierende Profithaie lauern? Das Schicksal des chilenischen Präsidenten Salvador Allende und seiner Volksregierung am 11. September vor 31 Jahren bleibt eine „Warnboje“ in der Geschichte lateinamerikanischer Befreiungsversuche.

Klaus Körner

 

Slums, in Brasilien heißen sie Favelas, am Rand von Rio

brasilianische Straßenkinder

 

 

Der 2.Beitrag:

Lula feiert 18 Monate...
...einer paradoxen Politik

Lula bittet um Geduld. Man solle sich nicht dafür schämen, dass viele Versprechen nicht erfüllt wurden; man solle stolz sein für alles, was man in diesen 18 Monaten erreicht hat. Das war die Schlussfolgerung der am Anfang Juli stattgefundenen Konferenz, bei der die Lula Regierung Rechenschaft über den ersten Drittel der Amtszeit gegeben hat. Zwar ist die Zustimmung der Regierung in der Bevölkerung gesunken. Die Bilanz der ersten 18 Monaten sollte dennoch das „Selbstwertgefühl“ der eigenen Mannschaft wieder heben. Insbesondere vor dem Hintergrund der kommenden Kommunalwahlen soll die Stärke der PT (Lulas Arbeiterpartei), nämlich die Kommunalpolitik, die durch den partizipatorischen Haushalt von Porto Alegre weltweit bekannt wurde, nicht durch die unpopuläre und wirtschaftlich orthodoxe Politik der Bundesregierung geschwächt werden.

Lula meldet positive Zahlen. Die Zinsrate ist heruntergeschraubt worden auf 16 % Nominalzinsen, die industrielle Produktion ist um 6,1%, die Exporte um 25% gestiegen, und die Inflationsrate ist unter Kontrolle. Die Regierung bestreitet nicht, dass diese Zahlen das Ergebnis einer orthodoxen und konservativen Finanz- und Wirtschaftspolitik ist. Sie erfüllt alle Konditionen der internationalen Finanzinstitutionen und möchte die Glaubwürdigkeit Brasiliens im internationalen Finanzmarkt beweisen. Die Lula Regierung hat die Chance verpasst, die neoliberale Politik der Sozialdemokraten umzudrehen und zu verändern. Auch wenn die „Hoffnung“ die „Angst“ an den Urnen besiegt hat (so das Motto der Wahlkampagne), und die Bürger und Bürgerinnen eindeutig den Wandel gewollt hatten, hat die Angst der Regierung vor den internationalen Investoren, Kreditinstitutionen und Gläubigern die Ho?nung auf eine grundsätzliche Veränderung der Wirtschaftspolitik nach 1,5 Jahren wiederum besiegt. Nicht zu vergessen ist der Terror der Finanzmärkte während der Wahlkampagne im Jahr 2002, die mit einem ungeheuren Kapitalflucht den Dollar- Wechselkurs in Brasilien verdreifacht hat und damit den Wahlsieg von Lula fast umkippte.

Im Sozialbereich meldet Lula stolze positive Zahlen. Das „Null-Hunger-Programm“ bedient vier Millionen Familien und verschiedene Programme zur Verbesserung des öffentlichen Gesundheitswesens, insbesondere Hausarzt- und Präventionsprogramme, wurden in Gang gesetzt. Im Bildungsbereich ist im Moment eine Hochschulreform im Gange, die der Zugang von unteren Schichten und des schwarzen Bevölkerungsanteils zu einer Hochschulausbildung erleichtern soll. Ebenfalls soll das Programm „Schul-Stipendien“ die Eltern mit einem Unterhaltsgeld ermuntern, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Leider sind die Ergebnisse dieser Programme noch nicht zu spüren. Die hocherwartete Erhöhung des Mindestlohns hat einen Streit zwischen Gewerkschaften und Regierungskoalition ausgelöst, und der Mindestlohn wurde um lächerliche 20 Reais, etwa 5 Euro, erhöht. Die Landreform, das Ziel der größten und PT- nahen sozialen Bewegung in Brasilien, nämlich die Landlosen MST, läuft langsamer als in den Jahren der sozialdemokratischen Regierung. Der MST und andere sozialen Bewegungen riefen im April dieses Jahr zu einem „roten April“ auf. In dem Monat wurden mehrfach Land und öffentliche Gebäude besetzt, es fanden Proteste in allen Hauptstädten und Auseinandersetzungen mit Regierungsbeauftragten statt. Damit wollten die sozialen Bewegungen Druck auf die Regierung üben, um die sozialen Reformen und viele soziale Wahlversprechen gegen die Interesse einiger Elitengruppen durchzusetzen.

Die Regierung Lulas steht zwischen der Schuldenbedienung und den Konditionen des IWF, und gleichzeitig dem Anspruch sozialer Politik auf dem Scheideweg. Das Projekt einer eigenständigen Industrialisierungs- und Entwicklungspolitik scheitert an der Abhängigkeit von Auslandskrediten und folglich an der Einhaltung der Konditionen für die Kreditvergabe. Dazu hat sie eine „schizophrene“ Anhängerschaft, die von Linken, ehemaligen Guerillakämpfern und aktiven Mitgliedern sozialer Basisbewegungen bis hin zu Vertretern der einheimischen Industrie, der Agrarexportindustrie sowie Vertretern des Finanz- und Bankwesens geht. So kann einen Paradox in der Politik der Lula Regierung beobachtet werden. Sie will einerseits den Interessen des brasilianischen Agrarexportsektors sowie der internationalen Finanzinstitutionen bedienen, anderseits will sie sich als Mitte-Links-Regierung profilieren und eine soziale Politik führen. Auch wenn zivilgesellschaftliche und soziale Bewegungen mit dem Außen-, dem Umwelt- oder dem Kulturministerium zum Teil kooperieren, sind andere Interessengruppen stark in anderen Regierungsinstanzen vertreten, wie im Industrie- und Entwicklungsministerium, im Agrar-, sowie im Finanzministerium und in der Zentralbank. So hat die Regierung Lula eine Zusammenstellung, die die internen Kräfte- und Interessensgegensätze widerspiegelt. Leider wiegt die Waage der Regierung schwerer auf der rechten und nicht auf der linken Seite.

Ana Garcia