Leitartikel zur EU-Migrationspolitik:

Festung Europa?

Angesichts von Toten in der Oder, von Grenzschutzbeamten mit Wärmebildkameras, von Helikoptern, die nachts die Außengrenzen der EU auf der Suche nach Migranten abliegen und angesichts von Abschiebegefängnissen sprechen Kritiker der repressiven EUropäischen Migrationspolitik gerne von der „Festung Europa“. Doch gerade diese Abschiebelager entlarven das Problematische am Bild von der EU als einer Burg, umgeben von unüberwindbaren Mauern und tiefen Gräben. Abschiebelager sind der Beweis sowohl dafür, dass die Mauern durchlässig sind als auch dafür, dass die umkämpften Grenzen mitten in der Gesellschaft verlaufen. Die innereuropäischen Grenzen sind unbedeutend geworden. An den EU-Außengrenzen starben zwar in den letzten Jahren Tausende von Menschen beim Versuch unbemerkt einzureisen1, doch vor denen, die es geschafft haben, liegt oft so viel Elend in den Bordellen, auf den Feldern und Baustellen, in Lagern und Behörden, dass sie sich am Ende selbst das Leben nehmen, oder abgeschoben werden und sich nach zehn Jahren Odyssee an ihrem Ausgangspunkt wiederfinden. Der Abschreckungseffekt ist gewollt: viele bleiben dementsprechend auch gleich an diesem Ausgangspunkt, auch wenn sie dort von Verfolgung, Ausbeutung oder Folter bedroht sind, da sie für eine Flucht in ein anderes Land keine Chance sehen und wissen, dass ihnen auch dort Verfolgung, Lager und Gefängnis drohen. Die Opfer sterben nicht nur an den Grenzen, sondern weltweit.

Auf der anderen Seite sind sowohl die EU als auch Deutschland auf Migration angewiesen. Griechische Olivenbauern und deutsche Bordellbetreiber, mittelständische Haushalte, Bauunternehmer, Reinigungsfirmen und Imbissbudenbetreiber greifen oft gerne auf die billige Arbeitskraft von illegalisierten und damit entrechteten Migranten zurück. Auch Wissenschaftler weisen auf die Notwendigkeit von Zuwanderung hin, da moderne Industrienationen eine Tendenz zum Aussterben haben, ohne Migration wäre der Bevölkerungsrückgang nicht aufzuhalten. Wäre Europa eine Festung, die keine Menschen hereinließe, so wäre sie irgendwann menschenleer. Allein Deutschland bräuchte jährlich eine halbe Million Zuwanderer im erwerbsfähigen Alter. Ohne sie wären die deutschen Sozialkassen heute schon pleite.2 Dadurch ergibt sich sozusagen ein Anforderungsprofil für Migranten: Sie sollten jung, möglichst arbeitswillig und -fähig sein und Bereitschaft zur Integration zeigen. Ziel der EU-Asylpolitik ist die Steuerung und Kontrolle der Flüchtlingsströme. Dazu sind alle Mittel recht – vom politischen Asyl für Verfolgte kann keine Rede mehr sein.

Anforderungen der EU
Mit der Lissabon-Strategie soll die EU weltweit zum führenden Wirtschaftsraum werden. Zentraler Inhalt: wirtschaftliche Macht durch mehr und billigere Arbeitskraft. Zur Durchführung dieser „europäischen Beschäftigungsstrategie“ gibt der Rat Empfehlungen an die Mitgliedstaaten aus. Hier wird nicht nur der bereits vollzogene Sozialabbau gelobt und für eine weitere Integration von Frauen und Alten in den Arbeitsmarkt geworben – um nur ein Stichwort zu nennen: die Diskussion um die Rente ab 67. Sozialabbau und die aktuelle Migrationspolitik dienen einem Ziel. Unter der Überschrift „Mehr Menschen auf den Arbeitsmarkt bringen und in Arbeit halten, Arbeit für alle lohnend machen“ lautet der letzte Punkt: „Die Anstrengungen zur Integration der Zuwanderer verstärken.“ Es ist ein Widerspruch des modernen Kapitalismus, dass er es einerseits zunehmend unattraktiver macht, Kinder in die Welt zu setzen, anderseits aber auf die billige Arbeitskraft im Niedriglohnsektor angewiesen ist. Wie immer, wenn der Kapitalismus auf einen Widerspruch trifft, muss der Staat in die Bresche springen. Eine neue Unterschicht muss her, die bereit ist, für noch weniger Geld zu arbeiten. Was wäre leichter als diese Unterschicht rassistisch zu konstruieren als Nicht-Deutsch bzw. Nicht-Europäisch. Verschiedene Branchen sind bereits auf illegalisierte Arbeiter angewiesen, teilweise ganze Volkswirtschaften: „Experten haben ausgerechnet, dass Griechenland ohne seine mindestens 500 000 Migranten 1997 nicht den Anschluss an die Eurozone geschafft hätte.“3 Diesem Bedarf steht eine riesige Menge (Schätzungen belaufen sich auf 12 Millionen Migranten) Menschen gegenüber, die global vor Kriegen und Gewalt, Hunger und Armut Unterdrückung und Ausbeutung auf der Flucht sind. Viele von ihnen würden gerne in der EU eine neue Heimat suchen, oder sich dort vorübergehend niederlassen. Doch im konservativen und rechten Lager stehen dem hierzulande Befürchtungen vor „Überfremdung“ entgegen. Die Rede ist von Parallelwelten, Ghettos und Terrorismusgefahr. Auch einige Gewerkschafter sehen durch ein erhöhtes Angebot von Arbeitnehmern das Lohnniveau gefährdet. Zugleich sprechen PolitikerInnen immer noch gerne von sogenannten „Scheinasylanten“, welche unrechtmäßig die Sozialkassen belasten würden, in die „die Deutschen“ eingezahlt hätten. Diese nationalistischen und rassistischen Diskurse ermöglichen es, dass die EUropäische Einwanderungspolitik hochgradig selektiv wird. Es wird unterschieden zwischen „erwünschten“ und „unerwünschten“ Migranten, also nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildung, Integrationsbereitschaft, Religion usw.

Minderung des Migrationsdrucks und Präselektion
Vor allem in den ärmsten Regionen ist zunächst festzustellen, dass es selten die Ärmsten der Armen sind, die in der Migration in ein reicheres Land eine Perspektive sehen. Eher handelt es sich um überdurchschnittlich Gebildete und finanziell Bessergestellte, die eine solche Odyssee wagen. Trotzdem sterben viele von ihnen auf dem Weg in die EU. Studenten haben es am Leichtesten in die EU einzureisen, mit ordentlichem Visum, werden sie doch als Import von Humankapital verstanden. Für alle Herkunftsländer von Flüchtlingen wurde in den letzten Jahren die Visumpflicht eingeführt, Flüchtlinge bekommen aber kein Visum und sind damit zur illegalen Einreise gezwungen.4 Dies ist nicht nur ein gigantisches Arbeitsbeschaffungsprogramm für kommerzielle „Schleuser“5, sondern wird den Migranten im späteren Asylverfahren als Straftat vorgeworfen.

Das Visa-System wurde EU-weit vereinheitlicht, biometrische Daten der Flüchtlinge werden erfasst und gespeichert. Wer in einem EU-Staat abgelehnt wird, ist es damit in der gesamten EU. Des weiteren wurde auf Initiative von Innenminister Schily 400 Millionen Euro für eine europäische Grenzschutzagentur bewilligt. Deren Aufgabe besteht im Kern darin, die Abschiebepraktiken noch effizienter zu machen. Das selbe Ziel verfolgt unter anderem die europäische Nachbarschaftspolitik (ENP): „Unter dem Dach der ENP sollen mit den einzelnen Nachbarstaaten maßgeschneiderte Aktionspläne ausgearbeitet werden. Diese sollen auf einem Bekenntnis zu gemeinsamen Werten wie Menschenrechten, verantwortungsvoller Staatsführung und Marktwirtschaft beruhen und unter anderem eine enge Zusammenarbeit in Bereichen wie Grenzschutz, Migration und Terrorismusbekämpfung umfassen.“ 8 Mit solchen Worten wird Druck auf die Nachbarn der EU ausgeübt und Migration und Grenzschutz in die Nähe von Terrorismusbekämpfung gerückt. Sogenannte „Rücknahmeabkommen“ waren nicht nur eine Bedingung für Länder, die mit der Osterweiterung in die EU eintreten wollten, sondern sind auch in anderen Kontinenten an die Erteilung von „Entwicklungshilfe“-Geldern gebunden.9 Die Tendenz, die Migranten schon weit vor den EU-Außengrenzen auszusortieren wird immer deutlicher. Die britische Regierung schlug im Februar 2003 vor, die Antragsbearbeitung in „Transit Processing Centers“ auszulagern. „Nach dem britischen Vorschlag sollen die geplanten Zentren vor Küsten errichtet werden, und zwar in Ländern wie Marokko, der Türkei, Kroatien, Somalia oder dem Iran, die implizit als sichere Drittländer gelten.“10

Besonders unerwünscht sind in der EU Menschen, die in großer Zahl vor bewaffneten Konflikten fliehen. Es ist eine traurige Tatsache, dass Menschen, die vor Konflikten fliehen, in denen sich europäische Armeen aus scheinbar humanitären Gründen beteiligen, nicht in die EU gelassen werden und ihnen die Anerkennung als Flüchtling versagt bleibt. Im Jugoslawien-Krieg wurde erstmals das Konzept der „heimatnahen Unterbringung der Vertriebenen“ (Schily) durchgesetzt. NATO-Truppen errichteten in der unmittelbaren Nachbarschaft, Albanien und Mazedonien, Lager und verhinderten gleichzeitig die Weiterreise der Flüchtlinge.11 Im Jahr 2000 betrug die Anerkennungsrate für afghanische Flüchtlinge in Deutschland 0,9% und im März 2003, mit Beginn des Krieges gegen den Irak sank die Anerkennungsrate irakischer Flüchtlinge auf den historischen Tiefstand von 13%.

Die Abschaffung des Rechts auf Asyl
Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Menschenrecht auf Asyl waren eine Reaktion auf den Vernichtungskrieg Deutschlands gegen die Juden. Um so schlimmer ist es, dass die heutige Bundesregierung mit ihrer EU-Politik das Asylrecht in der EU völlig verwässert hat. Unter dem Argument, Deutschland biete großzügige Sozialleistungen und wäre deshalb besonders attraktiv dass Herrschaft letztendlich auf dem möglichst detaillierten Wissen über die Beherrschten beruht. Insofern ist das Lager der Traum jedes Herrschers. Er hat eine große Zahl genau definierter und festgesetzter Individuen zur Auswahl, die er sich nach beliebigen Kriterien zu Untertanen machen kann. Die Techniken der biometrischen Erfassung, die derzeit an Migranten ausprobiert werden, kommen bis 2006 auch über alle EU-Bürger. Ab dann wird sich, wer einen Pass beantragt, die Fingerabdrücke abnehmen lassen müssen. Am Flughafen Frankfurt(Main) wird derzeit ein Pilotprojekt durchgeführt, welches parallel auf den größten europäischen Flughäfen stattfindet: Vielflieger wie Geschäftsleute können sich freiwillig die Augeniris scannen lassen und müssen ab dann nicht mehr bei der Passkontrolle anstehen, sondern können durch einen separaten Eingang. Sie müssen nur kurz in eine Kamera schauen und warten, bis ein Summton ihre Identität bestätigt und sie passieren lässt. Bedenkt man, dass jetzt schon Kameras auf Autobahnen jedes Kennzeichen scannen und mit Datenbanken über Verdächtige Autos abgleichen, ggf. gleich im nächsten Polizeirevier Alarm schlagen, kann man sich ausmalen, wie die Zukunft aussehen wird, wenn künftig einfache Überwachungskameras in der Lage sind, Identitäten festzustellen. Immer mehr Innenstädte und bereits die meisten Kaufhäuser sind lückenlos kameraüberwacht. In nahezu jeder Innenstadt entstehen mittlerweile pseudo-öffentliche Räume, die von privaten Wachfirmen kontrolliert werden. Menschen, die es sich nicht leisten können, ihre Freizeit mit Shopping zu verbringen, werden aus diesen Räumen herausgedrängt. Bahnhöfe sind für viele Menschen aus
anderen Weltregionen mittlerweile zu „No-Go-Areas“ geworden, da sie dort ständig von Wachpersonal kontrolliert werden. In dem Maße, wie sich das Herrschaftsgebiet der EU (auch über seine territorialen Grenzen hinaus) ausdehnt, ist eine Zunahme biopolitischer Herrschaft und von Raumordnungspolitik zu beobachten. Dass diese Praktiken zunächst rassistisch an „den Anderen“ ausprobiert und auf Minderheiten angewandt werden, sollte nicht verwundern. Zeigt doch die Geschichte, dass hier von der Mehrheit oft geschwiegen oder zugestimmt wird. Diesen Fehler sollten wir nicht noch einmal machen.


Christoph Marischka
Beirat der Informationsstelle Militarisierung

Zum besseren Verständnis hat die Redaktion den Text gekürzt und an manchen Stellen vereinfacht.
Das Originaldokument ist unter www.imi-online.de abrufbar.

Quellen:

1 Die Zahl der dokumentierten Todesopfer, die direkt auf die zunehmende Grenzsicherung und den Ausbau der Festung
Europa zurückzuführen sind, stieg nach einer Zusammenstellung des Anti-Rassismus Netzwerks United auf über 4 000 in den letzten zehn Jahren. Die Zahl der undokumentierten Todesfälle liegt vermutlich einiges höher.
2 Schmid, Josef: „Bevölkerungsentwicklung und Migration in Deutschland“ in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ B43 /2001.
3 Morice, Alain: „Die Neuen Grenzen des Asyls“ in „Le Monde diplomatique“ Nr. 7307 vom 12.3.2004
4 Kopp, Karl in: Friedrich, Rudi u. Pflüger Tobias: „In welcher Verfassung ist Europa“, Trotzdem Verlagsgenossenschaft 2004.
5 Von den Politikern wird gegen eben diese Schleußer in den Medien gehetzt. Viele betreiben dies kommerziell und ohne die Würde oder das Leben der Migranten zu achten. Verächtliche Meldungen über Schleußer und Schleußerbanden beziehen sich aber auch teilweise auf Menschen, die unentgeltlich aus politischer Überzeugung Menschen den Grenzübertritt ermöglichen.
6 www.bmi.bund.de/top/dokumente/Pressemitteilung/ix_93551.htm
7 Kopp, Karl a.a.o.
8 „Die EU definiert die Ostgrenzen der Union“ in:
NZZ 13.04.2004.
9 Morice, Alain: „Die Neuen Grenzen des Asyls“ in „Le Monde
diplomatique“ Nr. 7307 vom 12.3.2004.
10 Morice, Alain, a.a.o.
11 Kopp, Karl a.a.o.
12 Kopp, Karl: „Schutz für Flüchtlinge oder Schutz vor
Flüchtlingen“ in: „Wissenschaft und Frieden“ 2/2004.
13 http://www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/39/31008/
14 Dietrich, Helmut: „Flüchtlingslager an den neuen Außengrenzen – wie Europa expandiert“ in: Friedrich, Rudi u. Pflüger Tobias:„In welcher Verfassung ist Europa“, Trotzdem Verlagsgenossenschaft 2004.