Auszeit für Clement

 

Gerhard Schröder:
„Wir wollen das Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeiten kann und will, dazu auch die Möglichkeit bekommt.“

Edmund Stoiber:
„... dann müssen wir dafür sorgen, dass alle, die arbeiten können und wollen, auch tasächlich Arbeit erhalten.“

Helmut Kohl:
„Ein kräftiger Beschäftigungsaufschwung in Deutschland ist natürlich möglich.“




Das Ende der Vollbeschäftigung

Arbeitslosigkeit – die alten Weisheiten stimmen nicht mehr. Zum Beispiel: wenn die Konjunktur nur wächst, gibt es mehr Beschäftigung. Die Daten sprechen eine ganz andere Sprache: Was zehn Arbeiter vor zwei Jahren produzierten, schaffen heute neun. Und dennoch sagen deutsche Politiker: Wir müssen mehr arbeiten, also 40 Stunden-Woche. Länger arbeiten, also Renteneintrittsalter bei 67 usw.

Dabei ist längst klar: Unsere Arbeitsgesellschaft ist dabei, sich zu ver-ändern. Fundamental. Ihr geht die Arbeit aus. Ende einer Epoche. Was wir jetzt brauchen sind nicht nur olle Parolen, sondern ein neues kühnes Denken. Demnächst werden wir ganz selbstverständlich unterscheiden zwischen der bezahlten Erwerbsarbeit, die abnimmt, und anderen nützlichen Tätigkeiten, die zunehmen.

Das meinen renommierte Zukunftsforscher und Geisteswissenschaftler:

Prof. Ralf Dahrendorf:
„Wir sind in einer Epoche, in der das, was man früher Beruf‘ nannte, und das, was manche also ‚Normalarbeitsplätze‘ nennen, in abnehmendem Maße nötig sind, um das zu produzieren und auch sogar unter die Leute zu bringen, was wir wollen und was wir brauchen.“

Prof. Ulrich Beck:
„Die Politik, die Parteien, gaukeln uns die Vorstellung vor, man muss an ein paar Hebeln drehen, ein bisschen bittere Medizin, dieses oder jenes schlucken, und das Paradies der Vollbeschäftigungsgesellschaft wird wieder entstehen.
Das ?nde ich fatal. Wir lügen uns alle in die Tasche! Es wird eine Transformation geben, und das Zentrum, das Lebenszentrum, übrigens gerade in Deutschland – in anderen Ländern ist das nicht im selben Maße der Fall – wird nicht mehr nur die Erwerbsarbeit sein
können.“

Das ist nicht nur Theorie. Die neue Realität spürt auch Baustellenleiter Georg Meissner. Er weiß, dass kaum noch neue Jobs entstehen. Er weiß, was Globalisierung heißt: nicht nur der Waren, sondern eben auch der Arbeit.

Georg Meissner, Baustellen-Leiter:
„Man sieht ja, wie viel zigtausende Kollegen arbeitslos sind, und es tut sich aber nichts, ne? Und mittlerweile ist es ja schon so weit, dass der eigene, dass der Slowake, der hier nach Deutschland kommt zu arbeiten oder der Pole in seinem eigenen Land zu teuer ist und von hinten her, von hinten herein dann der Russe oder der Rumäne dringt. Also ist es eine Gesellschaft, wo wir reinschlittern, das kann man nicht mehr beschreiben dann auch, ne? Und es wird auch, ja es wird die Arbeit wird immer weniger sein.“

Made in Germany – das war einmal. Die Industrie produziert dort, wo Arbeitskraft billig ist. Ganze Fabriken werden verlagert, wandern über den Globus.

Prof. Ulrich Beck:
„Man dachte ja immer, wenn die Arbeitsplätze in der Industrie abgebaut wird, dann kommen neue Arbeitsplätze in der Dienstleistungsbranche, und die Dienstleistungsgesellschaft ist sozusagen die Hoffnung, das, was danach kommt. Wenn wir gerade die aktuellen Nachrichten hören über die Arbeitslosigkeit, dann haben wir auch einen radikalen Einbruch in der Dienstleistungsgesellschaft, die Dienstleister bauen auch die Arbeitskräfte ab. Wir wissen das, wie die Banken, wie die Versicherungen, die Kaufhäuser, überall wird es eigentlich leer von Arbeit, denn die Arbeitsplätze werden automatisiert.“

Dienstleister wie der Optiker Karlheinz Augendübler halten sich. Noch. Aber Familienbetriebe wie seiner werden seltener. Sogar das qualifizierte Handwerk verliert gegen die Massenproduktion. Die Zukunft ist ungewiss, auch für Fachleute.

Karlheinz Augendübler, Optiker:
„Logischerweise macht es also Angst, in 20 Jahren keine Arbeit mehr zu haben. Es macht mir Angst auch für meine Kinder, die dann in 20 Jahren nicht mehr Optiker sein dürfen, weil eben halt das unmodern ist. Wenn ich mir überlege, in meiner Jugend gab es an jeder Ecke einen Schuhmacher, oder Schuster haben wir früher gesagt, es gab überall einen Juwelier, es gab einen Goldschmied, es gab einen Uhrmacher, das ist also heute alles weg. Und das macht mir also schon Angst, dass wir also dann alles weghaben, das, was also Handwerk bedeutet, und diese Sache, womit wir uns identifiziert haben früher, wird in 20 Jahren wahrscheinlich weg sein.“

Angst macht eine Zukunft ohne Arbeit, weil Erwerbsarbeit nach wie vor alles bestimmt. Sie sorgt auch für ein Wohlgefühl, für Selbstachtung, für Identität.

Ellen Paulus, Software-Expertin:
„Ich lebe auch, um zu arbeiten. Also, die Arbeit macht mir großen Spaß. Sie strukturiert mein Leben, sie lässt mich am gesellschaftlichen Leben teilhaben, sie erfüllt mich auch und sie befriedigt mich.“

Tiefe Verunsicherung, wenn man keine Arbeit hat. Eine dürre statistische Zahl: Arbeitslose Männer sind sieben Mal anfälliger für psychische Störungen, Frauen drei Mal. Das Selbstwertgefühl kommt ins Wanken. Arbeit, das ist das Gefühl, gebraucht zu werden.

Prof. Ulrich Beck:
„Es ist offenbar – auch in der DDR war das übrigens noch massiver so –, dass Deutschland insbesondere über den Beruf die Identität des Einzelnen, den Status, das Einkommen, aber eben auch das Selbstbild, das Gefühl, einen Wert zu haben für andere, repräsentiert bekommt. Man wird anerkannt, man beginnt, sich als Mitglied der Gesellschaft zu fühlen und damit auch einen persönlichen Wert zu haben.“

Was passiert, wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht? Zukunftsforscher glauben, dass wir unsere Einstellung zur Arbeit ändern müssen. Dass Arbeitslosig-keit nicht zu privaten Krisen, zu sozialen Konflikten führen muss. Dass neben Er-werbsarbeit auch andere Tätigkeiten Sinn geben – wenn jeder Bürger materiell abgesichert ist. Das Instrument: eine staatliche Grundsicherung oder Bürgergeld.

Prof. Ralf Dahrendorf:
„Eine Grundausstattung muss für alle garantiert sein. Ein Fußboden muss da sein, unter den niemand kommt, durch den niemand durchfällt, und das ist eine Aufgabe der Gemeinschaft als ganzer.“

Prof. Ulrich Beck:
„Das Wichtigste ist, dass man sozusagen eine Basissicherheit hat. Deswegen komme ich darauf immer wieder zurück. Und die muss erwartbar sein, dann kann man auf dem Hintergrund große Unsicherheiten und alle möglichen Flexibilitäten und Einbrüche sowohl biographisch wie auch in der Familie verkraften. Dann wird es auch möglich, Kinder in die Welt zu setzen, weil man Arbeiten plötzlich miteinander koordinieren kann.“

Was bis heute meist Privatsache ist oder nur geringfügig entlohnt wird, wäre dann die „neue Arbeit“, über Bürgergeld finanziert. Also Elternarbeit, Krankenfürsorge, Nachbarschaftshilfe. Frei gewählte Tätigkeit. Arbeitslosigkeit wäre ein Begriff von gestern.

Prof. Ralf Dahrendorf:
„Es sollte zweifellos die freiwillige Tätigkeit gefördert werden, das kann auf vielerlei Weise geschehen. In England hat der Finanzminister in den letzten Jahren vieles getan zu dem Zweck, z. B. Unternehmen entlastet, wenn sie selber Beschäftigte für ganze Tage freigeben für freiwillige Tätigkeit. Also, ein Unternehmen, die kriegen dann Steuerentlastung dafür, dass sie ihren Beschäftigten erlauben, sagen wir drei Tage im Monat sich freiwilligen Tätigkeiten ihrer eigenen Wahl hinzugeben.“

Abschied von der Arbeitsgesellschaft:
Weniger Erwerbsarbeit, mehr Freizeit. Der Koch Axel Gebauer wüsste die zusätzliche freie Zeit sinnvoll zu nutzen.

Axel Gebauer, Koch:
„Wenn ich mehr Zeit hätte, aber die habe ich ja leider nicht, weil man ja nur am arbeiten ist und das fast an einem Stück, würde ich gerne den Obdachlosen helfen. Den Obdachlosen, einen Ob-dachlosen oder mehrere an die Hand nehmen und sagen: Da geht‘s lang, Jungs – oder Mädels –, zeigen, was sie machen müssen mit ihrer Zeit, wie sie durchs Leben kommen am besten.“

Aber wer bezahlt ein Bürgergeld? In Zukunft sind zunächst die Unternehmen mehr gefordert. Produktivität, Wirtschaftswachstum vermehren sich auch ohne die Arbeit der Vielen. Gewinne werden jetzt von Maschinen und Computern geschaffen. Bisher hängen die Staatskassen vor allem von der Einkommensteuer, also der Arbeit ab. Neue Quellen müssten erschlossen werden.

Prof. Ralf Dahrendorf:
„Wo wird heute der Mehrwert produziert? Er wird produziert in Unternehmen, die hoch technisiert sind, kaum Arbeitskräfte brauchen oder jedenfalls nur eine sehr begrenzte Zahl. Und ich halte es nicht für illegitim, dann die Frage zu stellen, ob nicht die Unternehmen, die in dieser Lage sind, in stärkerem Maße eine Quelle der Finanzierung der solidarischen Leistungen sein sollten.“

Hobbys, soziales Engagement, lebenslange Weiterbildung und entlohnte Arbeit – die Grenzen verwischen. Wenn die Erwerbsarbeit nicht mehr Dreh- und Angelpunkt ist, wird auch der Einzelne freier. Die Bürgergesellschaft löst die
Arbeitsgesellschaft ab.

Prof. Ulrich Beck:
„Ich weiß auch nicht, warum die Politiker nicht den Mut haben, eine solche Debatte zu eröffnen. Ich glaube, viele wären erleichtert und auch, sähen eine neue Perspektive, wenn man nicht mehr nur auf Erwerbsarbeit sich konzentrieren müsste. Und das würde auch der Politik diesen, ja diesen fatalen Verzweiflungscharakter – man hat das Gefühl, die sind völlig verzweifelt, die müssen sozusagen nehmen die letzten Strategien, die gar nicht mehr plausibel sind, propagieren, die nehmen sie wieder zurück, und machen dabei eine enorme Turbulenz, ohne wirklich substantiell die Fragen zu lösen.“

Prof. Ralf Dahrendorf, London School of Economics
Prof. Ulrich Beck, Universität München


Dieser Text basiert – leicht gekürzt und modifiziert – auf einem Manuskript der Sendung „Monitor“. Der Beitrag von Sonia Mikich, Kim Otto und Tatjana Kasprzyk wurde am 29.Januar ausgestrahlt.


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