Debatte über die Zukunft der Türkei in Europa

Die große Debatte über die Zukunft Europas, die sich zur Zeit mehr und mehr verdichtet, wird oft mit dem Argument verbunden, Europa müsse sich, wenn schon nicht neu gründen, so doch neu begründen.

Seit Beginn des Einigungsprozesses gilt die Türkei als das am schwersten zu integrierende Land. In den vergangenen 15 Jahren – und besonders bei der Erweiterungsrunde in Kopenhagen – hat die Frage des türkischen Beitritts für Kon?ikte innerhalb der Europäischen Union gesorgt. Außerdem hat die Aufnahme von zehn neuen Kandidaten die Position der Türkei deutlich verschlechtert. Verteilungsdebatten und heterogene Interessen bestimmten das Klima auf dem jüngsten Kopenhagener Gipfel des Europäischen Rates. Hier schien es, als würden strategische Interessen in den Hintergrund treten. Die zehn ost- und mitteleuropäischen Länder bringen sehr eigene historische Erfahrungen in die Europäische Union. Sie haben Demokratie und Menschenrechte über Jahrzehnte hinweg entbehren müssen, sie haben sie sich erkämpft – sie werden sie sich zu bewahren wissen.

Die politische Elite der Türkei muß auch einsehen, daß die Türkei kein homogener Staat ist und die türkische Gesellschaft aus verschiedenen Strömungen und auch ethnischen Gruppen besteht. Dazu müssen neben der türkischen Identität auch kulturelle Sub-Identitäten zugelassen und auch staatlich gefordert werden. Und auch bezüglich ihrer Identität muß innerhalb der Türkei eine offene und tabufreie Diskussion entstehen, wohin das Land gehen möchte und worin eigentlich die türkische Identität besteht. Dabei sollte eine positive Formulierung möglich sein, die nicht von empfundenen Bedrohungen bestimmt wird.

Das Ziel einer demokratischen Türkei kann dabei zentral sein. Europa sollte die Vergangenheit seiner Beziehungen aufarbeiten, ebenso wie die Türkei die genannten Probleme lösen muß, damit aus dem bisherigen Zweckbündnis auch ein neues, ehrliches Bündnis auf der Basis von demokratischen und humanitären Werten entsteht. Dies wäre auch der Traum vieler Türken. Angesichts des Irakkriegs und divergierender Positionen auch innerhalb Europas wird deutlich, wie wichtig außenpolitische Zusammenarbeit bzw. eine Gemeinsame Europäische Außenpolitik (GASP) der EU mit der Türkei für die Stabilität der Region des Nahen Ostens und auch Europas wäre. Nur Kooperation und Zusammenarbeit, eine gemeinsame Lösung der Probleme können friedensstiftend wirken. Mit der Türkei erhielte die EU-Außenpolitik deutlich mehr Gewicht.

Wer wäre besser geeignet als eine herannahende Türkei, die bewegungsscheue EU zu zwingen, sich endlich selbst zu renovieren?

Hinsichtlich der Umsetzung der bereits erfolgten Verfassungsreform und Reformen in der Wirtschaft benötigt die Türkei mehr denn je die Hilfe der Europäischen Union. Die Umsetzung der wirtschaftlichen und politischen Reformen, d. h. die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien, ist ein langfristiger Prozess. Die Festsetzung eines konkreten Datums für den Beginn der Beitrittsverhandlungen würde die politischen Kräfte in der Türkei, die nach einer Annäherung an Europa streben, stärken und ermutigen ebenso wie eine aktivere Unterstützung der Europäischen Union bei der Umsetzung der Reformen.

Europa ist nicht perfekt. Kritik an Zuständen und Erscheinungsformen ist leicht. Kritik allein hilft aber nicht weiter. Wenn das, was wir haben, nicht gut genug ist, müssen wir es besser machen. Den Bedrohungen des internationalen Terrorismus muss die Internationale Staatengemeinschaft gemeinsam mit aller Entschiedenheit entgegentreten Die heutige Europäische Union eint eine Vielfalt verschiedener Kulturen. Die Türkei könnte nur eine Bereicherung bedeuten. Angesichts sich verstärkt individualisierender und rationalisierender europäischer Gesellschaften könnte die Türkei dem Westen auch Werte wie Gemeinschaft und Solidarität innerhalb einer Gesellschaft, Werte, die in euro-päischen Ländern doch manchmal verloren zu gehen scheinen, vermitteln. Sehen Sie nach Europa, die Gesellschaften sind im Begriff ihre Normen zu verlieren, ...Werte wie Respekt vor den Alten oder der Familie schwinden. Die Bürgerinnen und Bürger Anatoliens könnten helfen, diese gemeinsamen Werte wieder zu stärken. Wir müssen dafür gemeinsam sorgen, dass in unserem Teil der Welt das politische und wirtschaftliche System stark genug ist, Freiheit, Demokratie und Menschenwürde für jeden Europäer zu bewahren!


Dr. Dr. Ümit Yazicioglu

 

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Die „Kopenhagener Kriterien“:

Als Bedingungen für einen Beitritt hat die Europäische Union 1993 auf dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs von Kopenhagen drei Voraussetzungen formuliert, die sogenannten „Kopenhagener Kriterien“, die alle Staaten erfüllen müssen, die der EU beitreten wollen:

Das „politische Kriterium“:
Institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung,
Wahrung der Menschenrechte, sowie Achtung und Schutz von Minderheiten.

Das „wirtschaftliche Kriterium“:
Eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten.

Das „Acquis-Kriterium“:
Die Fähigkeit, sich die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen und Ziele zu eigen zu machen, das heißt: Übernahme des gemeinschaftlichen Regelwerkes, des „gemeinschaftlichen Besitzstandes“.

quelle: www.bundesregierung.de