Rot-grüne Gerechtigkeit durch Umverteilung von unten nach oben – Teil 2

Von der Idiotie der Sozialreformdebatte

In der vorigen Ausgabe wurden unter dem Titel „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ vor allem Auffassungen zur Chancengerechtigkeit untersucht. Auch in diesem Artikel soll über den angeblich im Wandel befindlichen Begriff der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland nachgedacht werden. Ist die Verteilungsgerechtigkeit ein alter Hut? Wollen die Bürger in diesem Lande der Wirtschaft und ihren Riesenprofiten dienen oder müsste Politik nicht für eine menschlichere Gesellschaft steuernd und regulierend in die Wirtschaft eingreifen? Die Schere zwischen arm und reich wird immer größer und die Erwerbsarbeit immer weniger. Wie ist angesichts dieser Tatsachen Sozialstaat und Bürgerdemokratie zu entwickeln und welche Folgen hat fortgesetzte soziale Spaltung?

Für künstliche Hüftgelenke von Rentnern in die Sozialkassen zu greifen, wenn Krücken auch ihren Dienst tun, hält der forsche 23jährige Jungunionist Mißfelder für unangemessen. Die lebensverlängernden Maßnahmen sind teuer und erhöhen die Lohnnebenkosten (und verringern die Profite und Dividenden). So finden sich Sozialpolitiker und Mediziner unter dem Dach des Bundesgesundheitsministeriums zusammen und fantasieren – natürlich geschmackvoller als Rumpelstilzchen Mißfelder – Selektionsprogramme - geschönt mit den blumigen Worten „Eigenleistungen“ und „Zuzahlungen“. Nach solchen Programmen sollen nur diejenigen Anspruch auf Gesundheitsdienstleistungen haben, von denen nach der Rehabilitation noch produktive Leistungen zu erwarten sind.

„Die Mißfelders aller Parteien – nicht nur der CDU/CSU oder der FDP, auch bei der SPD und den Grünen sitzen viele Angehörige dieser Spezies – würden jeden Verdacht, Selektionslösungen zu propagieren, empört zurückweisen. Doch den vermeintlichen Sachzwängen des globalen Wettbewerbs würden sie vorbehaltlos zustimmen. Mißfelders Missgriff, biologische Kriterien für die Auswahl der Opferlämmer vorzuschlagen, wird kaum wiederholt werden. Das aber um Deutschland wieder „wirtschaftsfähig“ zu machen, wie der Kanzler uns erklärt, „Opfer für Reformen“ zu erbringen seien, haben fast alle verinnerlicht. Selten wird die Frage gestellt, warum Opfer eigentlich notwendig seien, wenn doch, wie in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt, das reale Wachstum mit 0,8 Prozent jährlich im Durchschnitt zwar gering, aber doch positiv gewesen ist.

Anscheinend wollen da eine Reihe von „Leistungsträgern“, unsere Elite von Ackermann bis zu Hundt, mehr als 0,8 Prozent an jährlichem Wohlstandszuwachs abkassieren? Das Solidarprinzip Gesunde für Kranke, Junge für Alte, Wohlhabende für Arme ist unter dem sozialdemokratisch scheinheiligen Appell „Alle müssen Opfer bringen“ längst zerbröckelt. Meinen Schröder und Müntefering damit die „Opfernden“, für die sie den Spitzensteuersatz bis zum nächsten Jahr um 11 Prozent gesenkt haben werden?

Heute schon, ohne dass die verheerenden Auswirkungen des Arbeitslosengeldes II gegriffen haben, leben 24,3% der Kinder bis 10 Jahren und 21,8% der Kinder bis zu 20 Jahren in den neuen Bundesländern unter der Armutsgrenze. „Armut ist weiblich“! Dieser Satz ist keine Ideologie, sondern nackte Realität, auch wenn Sozialministerin Ulla Schmidt diese ausblenden möchte. Von den Alleinerziehenden in den neuen Bundesländern leben 42,6% unter der Armutsgrenze (Statistisches Bundesamt für d.J. 2000). Von den Haushalten, die im Jahre 2001 in Deutschland Sozialhilfe empfangen haben, gab es 30 % alleinerziehende Frauen mit zwei Kindern, und 46,3 % alleinerziehende Frauen mit drei und mehr Kindern. Wer wundert sich da noch über schwindende Geburtenraten!

Einer unserer mächtigsten Männer – heimliches oder unheimliches FDP-Mitglied innerhalb der Sozialdemokratie – Superminister Wolfgang Clement behauptet, „...Ungleichheiten werden zukünftig ein mehr an Gerechtigkeit herbeiführen“. Praktisch politisch heißt das: Steuersenkungen, eine stärkere Lohnspreizung, Niedriglohnzonen, eine weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes usw. „All dies sind aber Maßnahmen, die in Deutschland (wie anderswo auch) bereits seit Beginn der 80er Jahre verstärkt zum Einsatz kommen, bis heute aber nicht zu einem beschleunigten Wachstum und vor allem nicht zu einer Ausweitung von existenzsichernden Beschäftigungsverhältnissen geführt haben.“(Prof. Birgit Mahnkopf)

Die Lobbypolitik der SPD für die „neue Mitte“, für die Globalisierungsgewinner, verhindert eine solidarische Umverteilung. Peter Glotz, einer der Chefideologen, ist der Meinung, die Globalisierungsgewinner „wollen nicht mehr teilen“. Er mag Recht haben, verfolgt man die Schamlosigkeit von Esser, Ackermann oder Welteke. Aber wofür ist eigentlich die Regierung da, wenn sie nicht umverteilen will? Nur für den Einkauf von Beraterverträgen?

Tut die SPD gut daran, die Verteilungsgerechtigkeit mit ihren beiden Elementen Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit aufzugeben, weil die Märkte und ihre Profiteure es so wollen? Wenn die Wähler nicht mehr an die Urnen gehen, so kommt das doch auch daher, weil ihrer Ansicht nach keine politische Kraft mehr die Gerechtigkeitsvorstellungen der großen gesellschaftlichen Mitte der heutigen Arbeitnehmer vertritt. Diese Menschen sind leistungsorientiert, qualifiziert und zur Weiterbildung bereit. Sie üben trotz wachsender Leistungsanforderungen Lohnzurückhaltung. Dennoch sind sie verunsichert, weil sie sehen, wie mit Menschen umgegangen wird, deren Leistungen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr nachgefragt werden, die krank geworden oder durch den Berufsstreß Behinderte wurden. Solche Menschen werden zur „überflüssigen Restbevölkerung“ im neoliberalen System gezählt. Sie können mit einer Bedarfsgerechtigkeit längst nicht mehr rechnen. Einer repräsentativen Allensbach-Umfrage zufolge, ist die Bereitschaft in der Bevölkerung hoch, für das gewohnte Maß an sozialer Sicherheit selbst den Preis höherer Steuern und staatlicher Reglementierung in Kauf zu nehmen. Jedoch die „neue Mitte“, Schröders liebstes Kind, kann auf die Verteilungsgerechtigkeit leicht verzichten. Und die Politik bedient sie mit Steuersenkungen und zum ungerechten Ausgleich mit dem Sozialabbau auf der Seite der Arbeitnehmer. „Betrachtet man das gesamte Steueraufkommen in der Bundesrepublik, dann leisten Konzerne, Unternehmer, Aktionäre und andere Reiche einen außerordentlich kleinen Beitrag zur Finanzierung öffentlicher Daseinsvorsorge. Im Zuge der Unternehmenssteuerreform 2000/2001 der rot-grünen Regierung sank ihr Anteil am Steueraufkommen auf das historische Tief von 11,6 Prozent. Rechnet man die Konzernsubventionen, öffentlichen Aufträge und Beratungsverträge, Rüstungs- und Forschungsgelder sowie staatliche Zinszahlungen an Banken und Geldvermögende dagegen, dann plündern sie die Staatskassen um ein Vielfaches dessen, was sie an Steueralmosen abgeben“ (Fred Schmid „Steuerparadies BRD“ in „junge Welt“ vom 7. April 2004)

Auf die Parteiendemokratie ist, so spüren die Menschen im Lande, kein Verlass. Was sollten beispielsweise Neuwahlen im Land Berlin bringen? Eine noch unsozialere Politik mit den Erben Landowskys an der Spitze? Wir müssen vom Süden des Planeten lernen, wie soziale Bewegungen und Initiativen sich vernetzen und an der Basis Interessen durchsetzen: Betriebsbesetzungen, Warenboykotte etc. Nur dann besteht Hoffnung, dass sich nicht eines Tages ein Rechtspopulist der Globalisierungsverlierer annimmt und sie mit billigen Rattenfängerparolen wie Ende der zwanziger Jahre betört. Die soziale Demokratie ist in Gefahr, wenn die Schwachen, an den Rand gedrängten und Pauperisierten sich nicht länger auf einst zugesicherte soziale Rechte verlassen können. Wer verachtet wird, lernt den Hass und die Gewalt. Das gilt weltweit ebenso wie für unser Land. Die Gewalt wird gleichermaßen wachsen wie der Spalt zwischen arm und reich.

Dem Vorsitzenden der Jungen Union, Herrn Mißfelder, ist „Dank geschuldet, weil er brutal im grellen Licht hat erscheinen lassen, was normalerweise mit rosa Tünche bedeckt wird. Er hat die Idiotie der Diskusssion um die Reform der Sozialsysteme so auf die Spitze getrieben, dass selbst die Protagonisten der Debatte Einhalt gebieten. Sie haben ihr Bild in Mißfelders Spieglein an der Wand gesehen...“(Elmar Altvater)


Klaus Körner