„Für Juden verboten“ – Jüdischer Alltag in Berlin
S-Bahnhof Alexanderplatz. Es dröhnt aus den Lautsprechern von allen Seiten.
Reisende schieben sich an mir vorüber. S- Bahnen halten unablässig
mit quietschenden Bremsen Einzug. Ein Schild im Fenster einer S-Bahn ködert
meine Aufmerksamkeit. „Für Juden verboten“ steht da gut sichtbar
in großen, schwarzen Lettern auf gelben Grund geschrieben. Neugierig trete
ich ein Stück näher, was soll das heißen? Für Juden verboten?
„Zurückbleiben bitte!“, ertönt die An-sage, ich erwache
aus meinen Gedanken und springe noch schnell in den Zug. An den Wänden
und Fenstern hängen weitere Schilder.
„12.11.1938: Juden ist der Besuch von
Theatern, Kinos, Konzerten, Ausstellungen, usw. verboten.“
„24.03.1942: Das Reichsministerium des Inneren verbietet Juden grundsätzlich die Benutzung innerstädtischer Verkehrsmittel; Ausnahmen gelten für Schulkinder und Angestellte jüdischer Einrichtungen, für Zwangsarbeiter nur bei einem Arbeitsweg von mehr als 7 km oder einer Wegstunde.“
Ein Mädchen kommt freundlich lächelnd auf mich zu. „Willkommen
in der Fahrenden Ausstellung ‚Für Juden verboten – Jüdischer
Alltag in Berlin‘ der Jugendgeschichtswerkstatt anläßlich des
heutigen Gedenktages. Hast du Lust, einen Fragebogen zu beantworten?“,
fragt sie mich und drückt mir einen blauen Zettel in die Hand. Gedenktag,
welcher Gedenktag? Als könne es meine Gedanken lesen, fängt das Mädchen
an zu erklären.
„Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz, das größte der
nationalsozialistischen Arbeits- und Vernichtungslager, von der Roten Armee
befreit. 1996 wurde dieser Tag vom damaliger Bundespräsidenten Roman Herzog
zum offiziellen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erklärt.
Der Vorschlag kam ein Jahr zuvor vom Vorsitzenden des Zentralrates der Juden
in Deutschland, Ignatz Bubis. Den 27. Januar und seine Bedeutung nimmt sich
die Jugendgeschichtswerkstatt des Vereins Miphgasch/Begegnung seit 2000 zum
Anlass in der ‚Fahrenden Ausstellung‘ ihre Arbeit vorzustellen und
so dem Vergessen ein wenig entgegenzuwirken.“
„Seit vier Jahren gibt es also diese Geschichtswerkstatt?“, frage
ich neugierig. „Eigentlich beginnt die Geschichte schon ein kleines Stück
früher. Aus dem Wunsch den Menschen zu zeigen, dass die Diskriminierung
der Juden im Nationalsozialismus nicht erst in den Konzentrationslagern begann,
sondern bereits im Alltag und für jeden sichtbar auftauchte, entstand 1998
die Jugendgeschichtswerkstatt. In einem ausrangierten S-Bahnwaggon am Anhalter
Bahnhof wurde von Jugendlichen und Studenten die Ausstellung „Für
Juden verboten – jüdischer Alltag in Berlin“ entwickelt. Dafür
befragten wir Zeitzeugen und Experten, suchten Archive auf und arbeiteten die
mehr als 2000 Verordnungen gegen Juden durch.
Am 31. August 1999 brannte der S- Bahnwagen in Folge eines Anschlags völlig
aus. Die ganze Arbeit war zerstört. Doch statt aufzugeben, fassten wir
den Plan, die verlorengegangenen Materialien zu rekonstruieren und in neuer
Form zu präsentieren. So startete am 27. Januar 2000 die erste Fahrende
Ausstellung“, berichtet sie.
Fasziniert schaue ich mich um. Am Hackeschen Markt sind wieder neue Menschen
eingestiegen. Viele gucken genauso verwirrt wie ich. Manche setzen sich schnell
und verschwinden hinter ihrer Zeitung. Über ein Mikrophon wird aus einem
Buch vorgelesen.
„Wieso gerade in einer fahrenden S-Bahn?“
„Diese Form bietet die Möglichkeit, Menschen zu erreichen, die sich
sonst die Ausstellung nicht anschauen würden. Ihnen können wir die
langsame, aber kontinuierliche Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen
Leben aufzeigen, um damit deutlich zu machen, welches Unrecht sich in diesem
Land, in dieser Stadt und nicht zuletzt in den Zügen auf der Strecke, die
viele jeden Tag benutzen, abgespielt hat“, führt das Mädchen
aus, während es weiter Fragebögen verteilt.
Wir fahren in den Bahnhof Friedrichstraße ein. Ein Mann flüchtet
in den nächsten Waggon. Unter den Neuzugestiegenen sind auch zwei Fotographen.
„Viele der Jugendlichen vom Anfang sind längst nicht mehr dabei,
dafür gibt es immer wieder neue Gesichter und mit ihnen neue Ideen. Über
die fünf Jahre hat sich dadurch die Geschichtswerkstatt weiterentwickelt.
Durch Zeitzeugeninterviews oder alte Dokumente inspiriert, wurden immer neue
Themen, wie Flucht und Einwanderung, die Emanzipation der Juden, aber auch aktuelle
Themen wie Argumente gegen Stammtischparolen aufgegri?en und bearbeitet. Auf
unserer Homepage und in Form einer Wanderausstellung werden die Ergebnisse dann
präsentiert.“
Wir werden unterbrochen, weil eine Frau nach den Lösungen für den
Fragebogen fragt, dann schließt es an das Gespräch an.
„Bei der letzten Aktion beschäftigten wir uns mit Hintergründen
für Straßennamen. Schließlich gibt es noch heute in Berlin
Straßen, die Antisemiten wie Heinrich von Treitschke ehren und kaum jemand
stört sich daran. Demgegenüber treten große Proteste auf, sobald
ein
jüdischer Namensgeber für eine Straße in Erwägung gezogen
wird.“
Im Wagen schreit eine alte Frau hektisch nach einem Arzt. Ein Mann mit einem
gelben Stern auf der Jacke drängelt sich zu ihr durch um ihr zu helfen.
Doch sie lehnt seine Hilfe ab – er ist doch Jude.
„Das sind die Senioren vom Theater der Erfahrungen“, ?üstert
das Mädchen mir zu, „gemeinsam mit ihnen führen wir jedes Jahr
kurze Theaterszenen auf.“
Schweigend betrachten wir das Schauspiel. Am Ende gibt es verhaltenen
Applaus. „Und wie geht es morgen weiter?“, frage ich.
„Dieses Jahr widmet sich dem Thema ‚Aufarbeitung des Nationalsozialismus‘.
Hierbei sollen vor allem die ‚äußere‘ Aufarbeitung, wie
Gerichtsprozesse und Entschädigungszahlungen, der ‚inneren‘
– der persönlichen – gegenübergestellt werden. Können
solche Erlebnisse überhaupt verarbeitet werden? Wie wirkt es sich auf das
Leben eines Menschen aus, wenn der Vater oder die Mutter KZ-Überlebende(r)
ist? Ist ein „Schlussstrich“ die richtige Art der Aufarbeitung?
Als Erstes wollen wir aktuelle Formen des Antisemitismus betrachten. Warum gibt
es in Deutschland immer noch Anti-semitismus? Was bedeutet Antisemitismus nicht
trotz, sondern wegen des Holocaust? Wo fängt Antisemitismus an? Erst bei
eindeutigen Übergri?en und Anschlägen auf Synagogen? Bei sogenannten
„Ausrutschern“ von Politikern, bei deren regungslosem Publikum?
Welche Rolle spielt der Nahostkon?ikt? Welche Bedeutung hat (vermeintlich verbotene)
Kritik an Israel in dem Kontext?“
„Nächster Halt, Zoologischer Garten“, erinnert mich sanft die Lautsprecherstimme. Ich muß aussteigen. Ich bedanke mich bei dem Mädchen. Es lächelt verlegen, „Jetzt habe ich dich die ganze Zeit voll gequatscht, ohne dass du eine Chance hattest, dir die Ausstellung anzugucken.“ Zum Abschluss gibt sie mir noch einen Flyer. „Du kannst uns im nächsten Jahr wieder in der S-Bahn besuchen.“