Vom Tellerwäscher zum Millionär

Über die rot-grüne Chancengerechtigkeit – Teil 1

In zwei Artikeln soll über den angeblich im Wandel befindlichen Begriff der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland nachgedacht werden. Ist die Verteilungsgerechtigkeit ein alter Hut? Wollen die Bürger in diesem Lande der Wirtschaft und ihren Profiten dienen oder müsste nicht Politik für eine menschlichere Gesellschaft steuernd und regulierend in die Märkte eingreifen? Die Schere zwischen arm und reich wird immer größer und das Ende der Erwerbsarbeitsgesellschaft und des industriellen Wachstums ist abzusehen. Wie ist angesichts dieser Tatsachen Sozialstaat und Bürgerdemokratie zu entwickeln?


„Ein Staat, dem die Gerechtigkeit fehlt, ist nichts anderes als eine große Räuberbande!“ Dieser Satz stammt nicht von der PDS, nicht von der Gewerkschaft und nicht von Attac. Er stammt vom heiligen Augustinus und ist über anderthalb Jahrtausende alt. Er gilt sicher auch noch über das 21. Jahrhundert hinaus.
Natürlich kann, da sind sich wohl alle vernunftbegabten Geschöpfe auf diesem Planeten einig, der Wohlstand in den Industrieländern nicht mehr (unbegrenzt) wachsen. Schon heute verbrauchen 20 Prozent der Weltbevölkerung (Europäer, US-Amerikaner, Japaner u.a.) 80 Prozent der Weltressourcen. Für die anderen, die 80 Prozent der Verarmten dieser Welt, bleiben gerade einmal 20 Prozent der Ressourcen übrig. Auch in Deutschland ist die Erkenntnis, dass die Zeit der Verteilung von immer üppigeren Früchten des Wohlstandes vorbei ist, Allgemeingut.
Die Kritiker von Rot-Grün treibt nicht die Verzweiflung über die Vertreibung aus dem Paradies um, sondern das Gefühl, der Politik sei endgültig der Mut zur Gerechtigkeit abhanden gekommen. Er sei durch eine bestechliche Gleichgültigkeit und eine süchtige Anpassung an den Neoliberalismus ersetzt worden.
Die fast gänzlich auf neoliberal „geschalteten“ Medienmacher und die ins gleiche Horn säuselnden oder trompetenden Politiker wollen uns weißmachen, die Verteilungsgerechtigkeit des „Großvater“ Sozialstaat sei endgültig vorbei, denn diese Gerechtigkeit hätte mit der Verteilung von Geschenken an den Bürger zu tun, ohne nach seiner Leistung zu fragen. Das ist entweder erfahrungsloses Mittelstandsgerede, dummdreist oder interessengeleitet gelogen.
Die wachsende öffentliche und private Armut auf der einen Seite und der zunehmende private Reichtum auf der anderen Seite haben dieses Land in eine soziale Schieflage gebracht. Sie ist Beweis dafür, dass in den letzten zwanzig Jahren tüchtig von unten nach oben umverteilt wurde. Mehr als eine Millionen Kinder in diesem reichen Land sind verurteilt, als Sozialhilfeempfänger Kindheit und Jugend zu fristen, während sich die teilweise erfolglosen Manager, Sportler und Entertainer Millionengehälter organisieren.
Eine Verteilungsgerechtigkeit, in der die Spitzenverdiener und Vermögenden in diesem Lande ebenso wie die Großkonzerne und Banken wieder ausreichend Steuern zahlen müssen, Familien mit Kindern oder Erwerbslose nicht zur Verarmung verdammt sind und die Kommunen wieder Finanzmittel für Jugendclubs, Kindergärten, bedarfsgerechte Schulen und Pflegeeinrichtungen, die Länder Geld für mehr Lehrer und personell und sächlich besser ausgestattete Universitäten hätten, hat nichts mit Geschenkemacherei, mit Schmarotzertum und sozialer Hängematte zu tun, sondern ist und bleibt Aufgabe eines Sozialstaates.
Chancen- oder Teilhabegerechtigkeit, von der Herr Scholz und Frau Sager gern schwadronieren, besteht erst dann, wenn tatsächlich gleichwertige Lebensbedingungen für alle ermöglicht werden; wenn Grundgüter (soziale Menschenrechte) wie eine bedarfsdeckende soziale Absicherung (Bürgergeld, Grundsicherung), ein von jedem bezahlbares intaktes Gesundheitssystem, ein unterschiedliche Startbedingungen ausgleichendes qualifizierendes Bildungssystem, die Teilnahme am Rechtssystem und an der politischen Willensbildung von der Gesellschaft bereitgestellt werden. Davon jedoch entfernen wir uns dank der Genossen der Bosse und einer grüngetünchten FDP immer mehr.
Eine unabdingbare Ergänzung der Teilhabegerechtigkeit besteht in der “Befähigungsgerechtigkeit” (Traugott Jähnichen, Bochumer Sozialethiker). Das Anspruchsrecht auf Teilhabe - Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes - bleibt bloß formal, wenn es nicht durch institutionalisierte Formen der Befähigung der Einzelnen - vor allem durch Bildungsprozesse - eine Ergänzung finden würde. Die Teilhabe- oder Chancengerechtigkeit bleibt ein Papiertiger, eine sozialpolitische Phrase, kommt der notwendige soziale Gedanke einer bevorzugten Behandlung von Benachteiligten nicht hinzu, die zum Ausgleich von Startnachteilen (Handycaps aller Art) einer besonderen Förderung bedürfen.
Das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit wird in einer postindustriellen Gesellschaft mit schwindender Erwerbsarbeit komplettiert durch die Bedarfsgerechtigkeit. Demjenigen Teil der Bevölkerung, dem kaum oder nur begrenzt Zugang zur weniger werdenden Erwerbsarbeit - leider immer noch das entscheidende Medium einer selbstbestimmten Lebensführung - ermöglicht wird, muss im Sinne der Bedarfsgerechtigkeit eine soziokulturelle Existenzsicherung gewährt werden. Der soziale Absturz, den die rot-grüne Bundesregierung mit dem Arbeitslosengeld 2 den von der Erwerbslosigkeit Betroffenen verordnet als seien sie nur zu faul, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen, verurteilt viele Familien zur Armut, denn allen Sozialpolitikern ist bekannt, dass der Warenkorb der Sozialhilfe etwa 10 Prozent unter dem Bedarfsminimum liegt.
In einer freiheitlichen Gesellschaft, so wird von den meisten Politikern von SPD bis CDU/CSU behauptet, sei Chancengleichheit (Chancengerechtigkeit) die einzig mögliche Form der sozialen Gerechtigkeit. Werden allen nur die gleichen Chancen eingeräumt, eigene Handlungsmöglichkeiten auszubilden, authentische Lebenspläne zu entwickeln und zu verfolgen, sich schließlich in den Verteilungskämpfen zu behaupten, dann wäre die Höchstform sozialer Gerechtigkeit verwirklicht. Jeder Versuch, soziale Gerechtigkeit über dieses Maß hinaus zu realisieren, würde negativ auf eben diese Gerechtigkeit zurückschlagen, würde nicht nur wirtschaftliche Effizienz sondern auch die Freiheit der einzelnen einschränken und so die Gerechtigkeit für alle beschädigen. Die Einzelnen seien ihres eigenen Glückes Schmied. Vom Tellerwäscher zum Millionär, welch eine Illusion! Mit diesem Slogan werden die unterschiedlichen sozialen, geistigen und gesundheitlichen Startpositionen weggewischt. Individuelle Unterschiede ergeben eben eine ungleiche Verteilung. Diese darf jedoch im Sinne einer solchen neoliberalen Chancengleichheitsideologie nicht durch Umverteilung aufgehoben werden. Am deutlichsten wird dieser Unsinn im Gesundheitswesen, wo die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken, zwischen Gering- und Gutverdienenden aufgehoben werden soll und jeder sein eigenes Risiko (Kopfpauschale) im Namen der Chancengleichheit trägt. So sucht man unter dem Deckmantel der Chancengleichheit den “lieben Frieden” mit den bestehenden sozialen Schieflagen, sucht im Duktus der sozialen Gerechtigkeit marktradikale Reformoptionen den Bürgern zu verkaufen. Deutschland muss “wirtschaftsfähig” (Kanzler Schröder) werden.
Angesichts dieser Verdummungs-strategien bleibt einem nur den Querdenker
der CDU, Heiner Geissler, zu zitieren: “Der Kapitalismus wird untergehen.
Wir müssen die soziale Marktwirtschaft auf internationalem Niveau einführen. Das ist keine Utopie, sondern eine ganz realistische Vision” (Publik-Forum v.21.11.03).

Klaus Körner