Auf der Suche nach dem „anderen“ Europa
Zum Europäischen Sozialforum in Paris vom 12.-15.November 2003
„Frei leben oder sterben!“ Wie ein Aufschrei klingen die radikalen
Worte auf dem Transparent, der seine Wurzeln in der Revolution 1789 haben könnte.
Diese Gedanken scheinen im Gedächtnis dieser Bewegung noch so lebendig
wie damals zu sein. Nicht weit von der Demonstrationsroute liegt die Bastille,
der Anfang einer revolutionären Bewegung, die ganz Europa und die Welt
der Neuzeit veränderte. Die Bastille erinnert daran, dass die Herrschenden
die Zeichen der neu anbrechenden Epoche nicht verstehen wollten. Vor den Augen
des hungernden Volkes gingen sie ihrem luxuriösem Leben nach. Von ihren
Ledersesseln in den Glaspalästen der Konzerne und den vorderen Sitzen in
den Parlamenten schaut der heutige Adel auf uns herab. Ihre Rezepte sind auf
Erhalt ihrer Privilegien, ihres Reichtums auf Kosten der unteren Gesellschaftsschichten
ausgelegt. Wäre einer von ihnen auf den Zustand des Bettlers oder illegalen
Immigranten reduziert – er hätte Schwierigkeiten in so einer überquellenden
Metropole wie Paris zu überleben. Überall sieht man sie: die algerischen
Männer, die in den stinkenden Metro-Stationen Nüsse verkaufen oder
die Emigranten aus Nigeria, die mit Freunden auf dem Bürgersteig Karten
spielen und Kronenbourg-Bier trinken. Diese hochfrequentierte Weltstadt lebt
von ihren Touristen, die schnell mit Hochglanzprospekten und Stadtplan an den
Bettlern und Prostituierten vorbei hasten, um den feudalen, unnahbaren Charakter
der Stadt einzufangen.
Mehr als 250000 Demonstranten gingen am 15. November unter dem Motto „Für
ein Europa der sozialen Rechte in einer Welt ohne Krieg“ auf die Straße.
Spanier, Engländer, Österreicher, Bretonen, Basken, Kurden, Türken,
Franzosen, Griechen, Italiener... – ganz Europa hat sich vereint, um für
eine sozialere und demokratischere Zukunft zu demonstrieren. Der selbstbewusste
Zug von Demonstranten zeigte Stärke und Vielfalt: ein großer Frauen-Block,
die algerischen Emigranten von den Sans-Papiers, das Netzwerk Attac, mehrere
Gewerkschaften aus Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland, kirchliche
Gruppen und Friedensorganisationen. Auf dem mehr als zweistündigem Zug
vom Place de la Republique zum Place de la Nation paradierten nicht nur die
traditionellen Organisationen und Bewegungen, hier zeigten auch viele neue Gesichter
Widerstand. Die digitalen Anzeigen der Hauptverkehrsadern und Boulevards in
der Innenstadt hießen das Europäische Sozialforum (ESF) willkommen.
Die Flics, die französischen Polizisten, hielten sich auch immer unauffällig
in den Seitenstraßen versteckt.
Bereits am ersten europäischen Sozialforum hatten im November 2002 in Florenz
ca. 60000 Menschen teilgenommen. Zu der Demonstration gegen den drohenden US-Krieg
im Irak versammelten sich eine Million Kriegsgegner in der Toskana-Metropole.
Diesmal wurde in Paris über den europaweiten Sozialabbau als Ergebnis neoliberaler
Regierungspolitik diskutiert. In den Pariser Vorstädten St. Denis, Bobigny
und Ivry wurden über 40000 Engagierte begrüßt. In 55 Konferenzen,
250 Seminaren und 400 Workshops wurden die Themen der Globalisierungskritik,
Krieg und Frieden, Antirassismus und die Europapolitik diskutiert und Alternativvorstellungen
entwickelt. Das ESF hat sich für ein Parteienverbot entschieden, weil allein
die „sozialen Bewegungen“ auf dem Forum das Sagen haben sollten.
Dies ermöglichte es auch einer Reihe linker, radikaler Gruppen wie die
Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) oder die Socialist Workers Party
(SWP) am ESF teilzunehmen und um neue Mitglieder zu werben.
Dieses Jahr galt die besondere Aufmerksamkeit den Minderheiten des Kontinents
sowie den Frauen. Die Problematik der ungleichen Behandlung und Stellung der
Frauen in allen Gesellschaften wurde in am 14. November in Bobigny diskutiert.
Abgeschlossen wurde der „Frauentag“ des ESF mit einem Frauenmarsch
durch Bobigny, an dem etwa 10.000 Frauen teilnahmen. Sie stellten klar, dass
eine „andere“ Welt ohne die massive Einbindung von Frauen nicht
möglich sein wird. Vorbild war die Organisation des ESF aber nicht: der
Frauentag fand ein Tag vor der eigentlichen Eröffnung statt und im Programm
wurde diese Versammlung erst gar nicht erwähnt. Das ESF wurde wieder vorrangig
von unbezahlten Freiwilligen organisiert. Die Dolmetscher-Studenten saßen
dort manchmal bis zu zwölf Stunden hinter dem Mikro, um die über zehn
Sprachen zu übersetzen. Die Ermüdung dieser Studenten entging dem
Zuhörer nicht, wenn die Übersetzung aus heiterem Himmel von einem
lauten Fluchen unterbrochen wurde.
500000 Euro spendierte der gaullistische Präsident Chirac, um das ESF zu
unterstützen. Außerdem schickte er seinen Sondergesandten Jerôme
Bonnafont als Beobachter zum ESF, um dort eine Verbindung zu der Bewegung für
eine alternative Globalisierung aufzubauen. Schon im Sommer lobte Chirac den
„Gegengipel“ zum G8-Gipfel in Evian. Natürlich liess er es
sich nicht nehmen, die Nicht-Regierungsorganisationen in seinen Amtssitz im
Palais Royal einzuladen.
„Lasst uns Utopisten sein, um kon-krete Ergebnisse zu erzielen. Wir sollten
uns aber darüber im klaren sein, wer unsere Gegner sind. Wenn es uns nicht
gelingt, zusammenzukommen, dann geht die liberale Globalisierung einer goldenen
Zukunft entgegen.“ gab der Bürgermeister von Paris Bertrand Delanoë
den Globalisierungskritikern mit auf den Weg. Eine freundliche Warnung, die
auch nach Paris die Frage offen lässt: Wie sieht das „andere Europa“
aus? Geben wir uns wieder der Utopie hin: „Le monde est à nous!“
(Die Welt gehört uns!)
Maria K