Die Furie des Aufruhrs und der Zwiespalt der Demokratie

In Bolivien erstürmen die Indios die politische Macht

Von Hugo Velarde

In Bolivien scheint jeder Wille zur politischen Veränderung unweigerlich mit einer sozialen Revolte verbunden zu sein. Erst dann, wenn der Aufstand einsetzt, richtet sich die Aufmerksamkeit der Welt auf das arme Andenland, von dem sie sonst, aufgrund seiner gegenüber Argentinien, Brasilien oder selbst Chile ökonomischen Rückständigkeit, kaum Notiz nimmt.
Dem Geist der Revolte verschrieben, ist in Bolivien ihre Vollendung stets ungewiss. Sinn und Zweck des Aufbegehrens ergeben sich vielmehr im Prozess selbst, der wie ein Fluch fortdauernd unabgeschlossen bleibt. Hier wird mit schwer berechenbaren, sprunghaften Maßstäben, aber mit einer in der Region kaum vergleichbaren Radikalität gehandelt. Spontaneität steht gleichsam als Markenzeichen für eine eigenartige politische Kultur, die auf die Geschichte des Landes verweist. Die politische Instabilität, die solch eruptive Rebellionen hervorzurufen imstande ist, entspricht aber hier immer einer Vorahnung dessen, was der ganzen Region politisch und sogar historisch bevorsteht. Bolivien kann als Südamerika in potentia, als dessen seismographischer Ausdruck bezeichnet werden.
Eingemauert durch die Anden, die Meeresküste allzu fern, die man an den Erzfeind Chile im Pazifikkrieg 1879 verlor, dem Weltmarkt als Binnenlandprovinz weitgehend verschlossen, aber auch bar aller kalkulierbarer Schemata zweckrationaler politischer Auseinandersetzung, – das Andenland wirkt in den Augen der Welt wie eine Schrulle des Unzeitgemäßen, das Vergangenes als Ideologie oder Zukünftiges als Utopie aufzuzeigen vermag, dem Takt der Gegenwart jedoch nicht folgend. In Zeiten des Aufruhrs – immer kurz, aber heftig – blitzt Bolivien auf. Aus der bloßen Geographie wird beobachtbare, erlebbare Geschichte. Sobald die Revolte abklingt, kehrt aber das Land zum gewohnten Schlummertrott zurück, zur Sparflamme, bis es der nächste Aufruhr noch einmal aufflammen lässt.
Jedem Aufbegehren haftet hier etwas Ekstatisches an, das sich nach und nach zu realhistorischer Tendenz mausert. Die Revolte erwächst aber hier aus den Urgründen der säkularen, brutalen Unterdrückungs- und Ausbeutungsgeschichte der mehrheitlich autochthonen Bevölkerung, die zusammen mit Mischlingen und einer Handvoll deklassierter Weißer das Gewissen des Andenlandes verkörpert.
Dieses Land ist eben Bolivien, das sich in der politischen Revolte zu geschichtlichen Taten aufschwingen kann, in ruhigeren Zeiten jedoch wie ein Naturschutzpark merkwürdiger Ethnien, unkatalogisierter Arten wirkt. Hier ist der Zwiespalt landeskonstitutiv. Gerade auf diesem Territorium, auf dem noch Franziskaner-Kirchen stehen, in denen Indios in einem von den Geistlichen erlernten Latein aus dem 16. Jahrhundert noch heute voller Inbrunst die Messen singen, um dann bei sozialer Zuspitzung dem Ruf des Generalstreiks zu folgen.
Schon in der Kolonialzeit fürchteten die Spanier panisch dieses Gebiet, gelegen im Hochperu, aber auch in den breiten Tälern des Südens – die eher an Argentinien erinnern und in denen der Geist der Rebellion in jeder Indio-Hütte oder selbst in den Kreolen-Häusern lauerte –, oder die Undurchdringlichkeit der Tropen, wo die ersten südamerikanischen Guerilleros phasenweise Zuflucht fanden, um gegen die Kolonialmacht aufzubegehren. Die spanischen Herren wussten um die aufrührerische Latenz dieses Zentrums, dieses Schmelztiegels des Aufstands. Hier war nichts zu bändigen, nichts langfristig zu unterjochen, nicht einmal die raue Umgebung, die zerklüftete Natur.
Anfang des 19. Jahrhunderts ertönten dort die ersten Stimmen gegen das Kolonialjoch und ihr Schrei verhallte in der weiten, bizarren Geographie des Landes, bis dieses Ursignal zur Entmachtung der Spanier auf das umliegende, argentinische, peruanische, ekuadorianische oder chilenische Umland überging.
Im 20. Jahrhundert verblüffte Bolivien dann die Welt mit der an Einzigartigkeit und Radikalität kaum zu übertreffenden Aprilrevolution von 1952, die den jungen Ernesto Ché Guevara bald zum antiimperialistischen Guerilla-„Fokus“-Krieg inspirierte. Das „kolonialisierte Indianerding“ schien aufgrund der Umbrüche in Bolivien allmählich zum Menschen zu werden. Peruanische oder ekuadorianische Indios schöpften Hoffnung. Und ihre jeweiligen Oligarchien zitterten vor möglicher Nachahmung. Eine tief greifende Bodenreform, eine neue, demokratische Verfassung, die reale Abschaffung der Leibeigenschaft und umfassende ökonomische Reformen schienen dem Land eine bessere Zukunft zu verheißen. Lateinamerikas Hoffnungen erwachten erneut. Plötzlich waren auch die Augen der Welt auf das vergessene Bolivien gerichtet, bis die dortige, noch feudal gebliebene Nationaloligarchie mit Hilfe der USA den revolutionären Anfang ausbremste und zum Stillstand brachte. Militärputsche folgten, bei denen Bolivien den traurigen Weltrekord hält.
Die Regierung des linksliberalen Hernán Siles Suazo beendete jedoch 1982 die Zeit der Militärdiktaturen. Von da an verwies die Demokratie das Militär in die Schranken der Kaserne. Alles schien in den Bahnen einer umfassenden Modernisierung zu laufen, die dem Land mehr Freiheit und Gerechtigkeit bringen sollte. Die erste, institutionelle, parlamentarische Phase der Demokratie setzte jedoch ein, ohne die unerlässliche soziale Frage zu beantworten, die auch in Bolivien immer den eigentlichen Grund von Rebellionen darstellte.
Heute scheint sich eine Neuauflage der revolutionären Ereignisse vom 1952 anzukündigen. Eine etwa dreimonatige, lang anhaltende Revolte beendete – von der Straße her – die Präsidentschaft von Gonzalo Sánchez de Lozada, der am 17. Oktober unter dem Druck der mehrheitlich indianischen Opposition nach blutigen Auseinandersetzungen mit über 70 Toten zurücktreten musste. Am gleichen Tag wuschen Kinder und Greise in La Paz, El Alto und Cochabamba symbolisch Blutflecken aus der bolivianischen Fahne, um den Neuanfang zu bekunden.
Erstarkt durch den Erfolg steht jedoch die Verwirklichung weiterer politischer Forderungen auf der Tagesordnung, während das bürgerliche Lager zu Mäßigung und Versöhnung aufruft – immer dann, wenn es schwach geworden ist.
Während der Gringo „Goni“ Sánchez mit ein paar noch loyaler Minister nach Miami flüchtete, wählte zeitgleich das Parlament verfassungsgemäß einen neuen Präsidenten. „Jetzt geht’s erst los!“ riefen zugleich Demonstranten in La Paz und in der Vorstadt El Alto. „Die Revolte ist längst nicht beendet!“ – auch nicht mit dem Regierungsantritt des 50jährigen Vizepräsidenten Carlos Mesa, einem parteiunabhängigen, als gemäßigt geltenden Journalisten, der ein Referendum zur Konsensfindung über den sog. „Gaskrieg“ und die Ausrufung einer Nationalversammlung versprochen hat. Mesa wird bis zu Neuwahlen provisorisch das Land führen. Keine leichte Aufgabe, der permanenten, angekündigten Revolte entgegenzuwirken, bis womöglich der erste indianische Präsident – der einstige Kokabauer Evo Morales hätte die besten Chancen – Bolivien regiert. Das Minimalziel der linksindianischen Opposition scheint erfüllt. Doch wirkliche Ruhe ist noch nicht eingekehrt.
Umfassende Reformen von Legislative und Exekutive werden anvisiert, die Zurücknahme der unlängst in Kraft getretenen Steuerreform und, das ist z. Z. das dominierende Thema, alternative Strategien zum Export der Bodenschätze sind ins Auge gefasst – wie das kürzlich entdeckte, auf Trillionen Kubikmetern geschätzte Erdgasvorkommen im Süden des Landes. Die von Morales geführte linke MAS (Movimiento al Socialismo), die bei den Wahlen am 30. Juni vorigen Jahres 20,9% der Stimmen gewann, will nun – zusammen mit dem radikalen Aimara-Indioführer Felipe Quispe, der an der Spitze der MIP (Movimiento Indígena Pachakuti) steht – den Export der großen Erdgasvorkommen durch das eigene Land über Peru erzwingen und nicht – wie bisher geplant – durch den vermeintlich kürzeren und einfacheren Weg über einen chilenischen Hafen, der dann von einer Pipeline via Mexiko in die USA führen soll. Wer die nötigen Investitionen zu dieser Option, die zweifellos Tausende Arbeitsplätze schaffen würde, aufbringen soll, ist allerdings nicht bekannt. Helfen könnten nur die linksdemokratisch regierten Länder Argentinien und Brasilien, auch im eigenen Interesse, da das bolivianische Erdgas als besonders reichhaltig und preiswert gilt. Doch beide Länder werden einen möglichen Zwist mit den US-Amerikanern abwägen müssen.
„Erdgas zuerst für die Bolivianer!“ skandiert man indes bei Kundgebungen in La Paz, Cochabamba oder Oruro. „Nieder mit dem Yankee-Imperialismus!“ Durch weitere, guerillaartige Blockierungen der wichtigsten Straßen des Landes fordern sogar etwa 20% der Bevölkerung die sofortige Einführung des „bolivianischen Sozialismus.“ „Die Weißen nach Spanien!“ hört man auch gelegentlich aus dem Lager der radikalen MIP. Ein umgekehrter Rassismus ist hier unüberhörbar.
Eine bleierne Bredouille. Das US-Establishment ist bestürzt und das nationale Bürgertum erschüttert, die „Bleichgesichter“ des Landes zutiefst verängstigt. Soll das indianische Dienstmädchen etwa jetzt Herrin werden? Und der Kofferträger indianischer Herkunft auf dem Flughafen das jahrzehntelang getragene Gepäck plötzlich fallen lassen, den einstig weißen Herren umrempeln und selbst in das Flugzeug einsteigen, womöglich in der ersten Klasse Platz nehmen? Könnten sich die Ereignisse des Jahres 1898 wiederholen, fragt sich die weiße Minderheit, als die Indios an die 100 Großgrundbesitzer und Kadetten in der damaligen Hauptstadt Sucre töteten, ihre Leichen zerstückelten, um dann die zerhackten Glieder zu verspeisen? Selbst ein Priester, erzählt man, der zur Versöhnung der indianischen Rebellen mit den in einer Kaserne verschanzten Weißen herbeieilte, soll keine Gnade gefunden haben. Die Indios hätten kurzerhand aus dem noch zittrigen und warmen Leib des Geistlichen das „weiße“ Herz aus der Brust gerissen. „Seitdem fließt auch weißes Blut in den Indioherzen“, sagen die Weißen. Alter Mythos oder Wirklichkeit? Die Angst jedenfalls sitzt tief, die säkulare Feindschaft ist noch nicht geschlichtet, und das Land scheint weiterhin unregierbar.
Doch weitere Probleme erschüttern das Land. In den unterschiedlichen Regionen erheben sich immer stärker föderalistische, gar separatistische Stimmen. Bolivien droht auseinander zu fallen. Im östlichen Santa Cruz de la Sierra z. B., inzwischen die größte und bevölkerungsreichste Stadt des Landes, ist der rassistisch motivierte Regionalismus sehr stark geworden, obgleich die Bevölkerung auch dort mehrheitlich indianisch ist. Die weiße Elite regiert noch in der Stadt. Kürzlich bewaffneten sich dort Tausende zur Verteidigung der sog. „Camba-Nation“ gegen die „Kollas“ (die in den Anden lebenden Indios), die wie eine „schwarze Lawine“ über das „spanisch-kastillische Camba-Land“ hereinbrechen könnten. „Weg mit den Indios!“ heißt es dort, wo die meisten Erdölreserven des Landes liegen.
Im südlichen, an der Grenze zu Argentinien befindlichen Tarija, wo das o. g. Erdgas gefunden wurde, werden ähnliche Forderungen erhoben. Das „Bolivien der Regionen“, in dem immer noch zentralistisch – von La Paz aus – regiert wird, droht nun der Kollaps, wenn nicht sogar der endgültige Zerfall oder das Verschwinden als Nation. Und der soziale Sprengstoff sorgt weiterhin für Revolten, die die soziale Zerrüttung des ganzen südamerikanischen Subkontinents zum Ausdruck bringen.