September 2003

Jörn Boewe

Die Umverteilung der Arbeit bleibt eine Überlebensfrage

Ohne Arbeitszeitverkürzung wird die Massenarbeitslosigkeit nicht zu reduzieren sein

Schnell weg da, weg da , weg,
mach Platz, sonst gibt's noch Streit
wir sind spät dran und haben keine Zeit
...
ein ander Mal sehr gern
dann setzen wir uns hin
und reden über Gott, Lotto und die Welt

Na denn, mach's gut, bis bald
Es hat jetzt keinen Sinn
Wir müssen dringend los, denn Zeit ist Geld

Hermann van Veen



Es war im Februar. Ich hatte es eilig, zur Arbeit zu kommen. Ich war spät dran, weil ich gestern bis spät in die Nacht gearbeitet hatte und heute nur schwer in Gang kam. Am Alex musste ich von der U-Bahn in den Regionalzug umsteigen. Punks bettelten um Geld für Hundefutter und Dosenbier. Sie sahen fertig aus.

Die, die noch Arbeit hatten, rannten ihrer Zeit hinterher. Aber Zeit, freie, selbstbestimmte Zeit würde es für sie immer weniger geben. Die, die noch Zeit hatten, konnten es ruhig angehen lassen. Für sie würde es ohnehin keine Arbeit mehr geben. Nicht mehr in diesem Konjunkturzyklus, und wahrscheinlich auch nicht im nächsten.

Ich rannte die Rolltreppe hoch, fluchte, weil eine japanische Reisegruppe den Weg verstopfte, sprang in letzter Sekunde auf meinen Zug. Die automatischen Türen schlossen sich. Der Typ im Spiegelbild sah müde aus, nicht viel besser als die Punks in der U-Bahn-Unterführung.

Ich schlug die Zeitung auf. Ein Arbeitgeberverband behauptete mit Hilfe einer Statistik, dass in Deutschland immer weniger Überstunden gemacht würden. Allerdings tauchten in der Statistik nur die Überstunden auf, die von den Arbeitgebern auch bezahlt wurden. Was zum Teufel wollten uns diese Leute eigentlich beweisen?

Die IG Metall, meldete die Zeitung weiter, hatte die Verhandlungen über die Verkürzung der Regelarbeitszeit von 38 auf 35 Stunden in Ostdeutschland aufgenommen.

Die Zeit ist der Raum der menschlichen Entwicklung. Ein Mensch, der über keine freie Zeit zu verfügen hat, dessen ganze Lebenszeit, abgesehen von den bloß physischen Unterbrechungen durch Schlaf, Mahlzeiten und so weiter, durch seine Arbeit für den Kapitalisten in Anspruch genommen wird, ist weniger als ein Lasttier. Er ist eine bloße Maschine zur Erzeugung von fremdem Reichtum, körperlich gebrochen und geistig vertiert. Und doch zeigt die gesamte Geschichte moderner Industrie, dass das Kapital, wenn es nicht im Zaume gehalten, rücksichtslos und unbarmherzig daran arbeiten wird, die ganze Arbeiterklasse auf diesen äußersten Stand der Herabwürdigung zu bringen.
Karl Marx

Die 90er Jahre waren das Jahrzehnt, in dem Computernetzwerke, Internet und Mobiltelefon selbstverständliche Bestandteile unseres Alltag wurden. Die Arbeitsproduktivität stieg rasant, nach Studien der OECD, der Wirtschaftsorganisation der westlichen Industriestaaten, erstmals sogar unabhängig von der aktuellen Konjunktur. Neue Technologien nahmen den Menschen immer mehr Arbeit, vor allem mechanische, stumpfsinnige Arbeit ab.

Eigentlich eine schöne Sache. Jede vernünftige Gemeinschaft würde die in ihr anfallenden Arbeiten halbwegs gerecht und gleichmäßig verteilen.

Viereinhalb Millionen Erwerbslose zählt die offizielle Statistik der deutschen Bundesanstalt für Arbeit, deren Zweck nicht zuletzt darin besteht, das wirkliche Ausmaß der Massenarbeitslosigkeit mit allerlei rechnerischen Tricks zu verschleiern. Realistischere Schätzungen gehen von zehn Millionen aus.
Allein in Berlin sind seit dem Fall der Mauer eine halbe Million Jobs verloren gegangen. Das waren nicht alles Grenztruppen und Stasileute. Die Zahl der industriellen Arbeitsplätze in der Stadt hat sich halbiert.
Weltweit, so schätzt die Internationale Arbeitsorganisation der UN, die ILO, sind ein Drittel der Menschheit erwerbslos oder unterbeschäftigt.

Strukturwandel nennen das die Wirtschaftsexperten.
Das Problem mit dem Strukturwandel ist, dass die alten Strukturen schneller zerfallen, als neue entstehen. Jedenfalls sind die neuen Strukturen so, dass immer weniger Menschen darin eine einigermaßen würdige Existenz führen können.

Nehmen wir an, dass gegenwärtig eine bestimmte Anzahl von Menschen mit der Herstellung von Nadeln beschäftigt ist. Sie machen so viele Nadeln, wie die Weltbevölkerung braucht, und arbeiten acht Stunden täglich.
Nun macht jemand eine Erfindung, die es ermöglicht, dass dieselbe Anzahl von Menschen doppelt so viele Nadeln herstellen kann.
Aber die Menschheit braucht nicht doppelt so viele Nadeln. Sie sind bereits so billig, dass kaum eine zusätzliche verkauft würde, wenn sie noch billiger würden.
In einer vernünftigen Welt würde jeder, der mit der Herstellung von Nadeln beschäftigt ist, jetzt eben vier statt acht Stunden täglich arbeiten, und alles ginge weiter wie zuvor.
Aber in unserer realen Welt betrachtet man so etwas als demoralisierend. Die Nadelarbeiter arbeiten immer noch acht Stunden, es gibt zu viele Nadeln. Einige Nadelfabrikanten machen bankrott, und die Hälfte der Leute verlieren ihren Arbeitsplatz. Es gibt jetzt, genau betrachtet, genausoviel Freizeit wie bei halber Arbeitszeit; denn jetzt hat die Hälfte der Leute überhaupt nichts mehr zu tun, und die andere überarbeitet sich.
Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die unvermeidliche Freizeit Elend hervorruft, statt dass sie eine Quelle des Wohlbefindens werden kann.
Kann man sich noch etwas Irrsinnigeres vorstellen?
Bertrand Russell

"Dös is' ja voll der Wahnsinn", sagte mir ein IG Metaller aus Bayern. "Die Leute schieben Überstunden ohne Ende, arbeiten 60, 70, teilweise 80 Stunden die Woche, nehmen anderen dadurch den Job weg und dann ziehen sie am Stammtisch über diese 'faulen Schweine' noch her, und machen sie verantwortlich für ihre Misere ... 'a echt' Perversität."

Der Kollege hatte recht, es ist Wahnsinn. Aber dieser Wahnsinn hat Methode.
Dieses System, bei dem ein Teil der Gesellschaft an Überarbeitung und der andere materiellen Mangel leidet, bietet zwei große Vorteile für die Chefs und Kapitalisten.

Erstens ist Massenarbeitslosigkeit ein hervorragendes Instrument, die Löhne zu drücken und die Angestellten zu disziplinieren. "Wenn es Ihnen nicht passt, können Sie gehen - da draußen warten genügend andere, die froh wären, wenn sie hier für einen Bruchteil von dem arbeiten dürften, was Sie kriegen ..."

Zweitens sind Angestellte, die man bis zum Äußersten verplant, einspannt und auspresst, viel leichter kontrollierbar, als Leute, die vielleicht nur vier oder sechs Stunden oder drei Tage in der Woche für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssten und in der verbleibenden Zeit möglicherweise Bücher lesen, über ihr Leben nachdenken, sich mit anderen Menschen treffen, sich vielleicht sogar organisieren und andere subversive Dinge tun.

Der Witz ist, dass dieses System nicht einmal wirklich produktiv ist. Es ist eine Binsenweisheit moderner Arbeitsorganisation, dass ein Mensch, der seine Zeit effektiv organisieren will, höchstens 60 Prozent davon verplanen darf. Der Rest sollte für unvorhergesehene und spontane Aktivitäten reserviert bleiben.

Die Produktion wird durch die Arbeitsteilung, wie sie bei uns herrscht, zu einem System, das die Produktivität hemmt. Die Menschen behalten sich nichts mehr vor. Sie lassen sich abstempeln. Die Zeit wird ausgenutzt, da bleibt keine Minute für das Unvorhergesehene. Man verlangt viel. Aber das Nichtverlangte bekämpft man. Die Menschen haben so nichts Unbestimmtes, Fruchtbares, Unbeherrschbares mehr an sich. Man macht sie bestimmt, festumrissen, verlässlich, damit sie beherrschbar sein sollen.
Bertolt Brecht

Ein halbes Jahr später sprang ich am Alex wieder auf meinen Zug, vorbei an fotografierenden Japanern und schlug den "Spiegel" auf, eine bunte Zeitschrift, die sich vor Jahrzehnten einen Ruf als seriöses Nachrichtenmagazin erworben hatte.

Der Streik der IG Metall war gescheitert. Nicht weil die Arbeitgeber so mächtig waren und die Streikenden in den Betrieben Angst bekommen hätten, nein. Natürlich hatten die Unternehmer, unterstützt von der SPD eine massive Hetzkampagne in den Medien geführt, wie man sie bisher eigentlich nur vom "Krieg gegen den Terror" und anderen humanitären Luftschlägen kannte. Aber die Streikfront in den Betrieben stand.

Der Streik war an der Sabotage einiger einflussreicher westdeutscher IG-Metall-Funktionäre gescheitert. Am Schlimmsten hatten sich ein gewisser Klaus Franz, Konzernbetriensrat bei Opel, und der IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel aufgeführt.

Allerdings hatten auch nicht wenige der so genannten IG Metall-Linken "Muffensausen" bekommen.

Beim Kampf der IG Metall um die Arbeitszeitverkürzung im Osten ging es um Gerechtigkeit zwischen Ost und West - gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Im Westen gab es die 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie seit 1984.
Aber es ging auch darum, eine humane Antwort auf die Rationalisierung zu finden, die den Leistungsdruck verstärkte, Arbeitsplätze vernichtete und denen, die draußen standen, erst gar keine Chance gab, in Lohn und Brot zu kommen.

"Wir lagen völlig daneben", sagte der neue IG-Metall-Chef Jürgen Peters jetzt im Spiegel.

Peters hatte es geschafft, seine Stellung zu behaupten, nachdem seine Gegner in der Gewerkschaft, Presse, Fernsehen und Arbeitgeber wochenlang seinen Rücktritt gefordert hatten. Genaugenommen war Peters der eigentliche Streikgewinner. Die "öffentliche Meinung" hatte ihn sowohl für den "irrsinnigen Streik" genauso wie für die "historische Niederlage" verantwortlich gemacht. Die Presse forderte seinen Kopf, aber auf einer Welle des Trotzes schaffte es Peters, seinen Kontrahenten Zwickel zu beerben.

Jetzt war es offenbar an der Zeit, ideologisch zurückzurudern. Noch war unklar, in welches Fahrwasser die IG Metall dabei geraten würde.

Tatsächlich hatte die Gewerkschaft mit ihrer Forderung genau richtig gelegen.

Nach dem Streikdesaster erscheint eine Wende zu echten Reformen, zu einem Einstieg in die dringend nötige Arbeitszeitverkürzung, weiter weg denn je.
Dennoch bleibt die Umverteilung der Arbeit eine Überlebensfrage.

Manchmal hilft ein Blick nach Amerika.
Während der großen Massenarbeitslosigkeit der 20er Jahre forderten amerikanische Gewerkschaften erstmals die „Verteilung der Arbeit auf alle Hände“. Unterstützung fanden sie bei dem englischen Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell: "Wenn der normale Lohnempfänger vier Stunden täglich arbeitet, hätte jederman genug zum Leben und es gäbe keine Arbeitslosigkeit."

Präsident Hoover wurde aufgefordert, die 30-Stunden-Woche durchzusetzen und so "Arbeit für Millionen unbeschäftigter Menschen" zu schaffen. " Sogar Unternehmer schlossen sich dem Appell an, da sie keine andere Möglichkeit sahen, um die Kaufkraft der Konsumenten wieder zu erhöhen. Verkürzte Schichten führten zu einer erhöhten Leistungsbereitschaft und zu mehr Arbeitsmoral.

Unter der Regierung Roosevelts wurde der Staat zum Arbeitgeber. Durch staatliche Programme und den öffentliche Arbeiten sollte die schwache Wirtschaft wieder angekurbelt werden - „New Deal“ hieß das damals.

Heute sind weder der freie Markt noch der öffentliche Sektor in der Lage, die steigende, technologisch bedingte Arbeitslosigkeit aufzufangen und ein Absinken der Kaufkraft zu verhindern.
Die Senkung der Staatsausgaben und - schulden hat derzeit in allen westlichen Industrienationen und Japan absolute Priorität. Damit bleibt den Regierungen wenig Spielraum, um den technologischen Umwälzungen mit öffentlichen Programmen zu begegnen. Und so klammern sich Politiker nahezu aller Parteien weiter an die Vorstellung, dass technische Neuerungen, Produktivitätszuwächse und fallende Preise eine ausreichende Nachfrage und neue Arbeitsplätze mit sich bringen würden.Vor allem aber geht es um eine drastische Senkung der Mindestlöhne, die Schaffung eines Billiglohnsektors, in dem sich Leute, die nicht wissen, ob sie im nächsten Monat noch ihre Miete zahlen können, um miese „hire&fire jobs“ prügeln. Das ist der Kern der so genannten Reformen, die die rot-grüne Regierung mit Rückendeckung des Big Business und unter Mithilfe der CDU auf den Weg gebracht hat.

Ob dadurch mehr Arbeitsplätze entstehen? Nun ja, es gibt einen Witz aus der Regierungszeit von Bill Clinton. Clinton, der ein toller Redner ist, erzählte auf einem Meeting der Demokratischen Partei, dass er mit seinen Reformen - ganz ähnlichen, wie sie Schröder und Clement jetzt an uns vollziehen - eine Million neuer Jobs geschaffen habe. „Kann gut sein“, rief jemand aus dem Publikum, „ich habe allein schon drei davon.“