Viktor Klemperer

September 2003

„Worte können wie kleine Arsendosen sein...“

Victor Klemperers Buch „LTI. Sprache des Dritten Reiches“ legt neben dem manipulativen Aufbau auch die erschreckende Wirkung des Nazideutsch offen und verweist auf immer noch bestehende Elemente

Als die Nationalsozialisten Anfang des Jahres 1933, unterstützt durch loyale Beamte und willigen Spießern, die alles taten um die ihnen verhasste Weimarer Republik zu begraben, anfingen die Verwaltung, und damit die Machtapparate des Staates, in ihre Richtung umzubauen, war die Neuordnung des Pressewesens und der Meinungsbildung mit an erster Stelle. Joseph Goebbels, seit Anfang an dabei, Organisator und Bewunderer Hitlers, wurde Propagandaminister und verschaffte der NSDAP durch die bedingungslose Gleichschaltung aller Medienorgane (Rundfunk, Zeitungen, Film) einen zentral gelenkten Propagandaapparat mit der Aufgabe die Bevölkerung zu beeinflussen und zu formen.
Um dies zu erreichen brauchten die Nazis absolute Hoheit über jedes gedruckte und gesprochene Wort um keinerlei Kritik und anderen Meinungen ausgesetzt zu sein. Die im September des Jahres eingerichtete Reichspressekammer und das Schriftleitergesetz haben genau diesen Zweck: Zensur und Ausgrenzung. Es durfte kein jüdischer Bürger oder politisch anders Gesinnter mehr als Journalist tätig sein, zahlreiche Zeitungen wurden verboten oder unter anderem Vorzeichen übernommen, vorgegebene Richtlinien vom Propagandaminister Goebbels mussten streng eingehalten werden. Diese enthielten „vertrauliche Informationen“ und Anweisungen über Wortwahl, Themen, so wird z.B. 1940 darauf hingewiesen den Begriff „Besatzungsheer“ für die Wehrmacht nicht zu benutzen und statt „Evakuierung“ von „Kinderlandsverschickung“ zu sprechen.
Die Strategie war perfekt und lief gut. Es gelang der NSDAP innerhalb von nur zwölf Jahren die ihr eigene Gruppensprache, die von Abkürzungen, Euphemismen und Herabwürdigungen durchsetzt ist, auf die gesamte deutsche Bevölkerung auszuweiten. Jedes, selbst persönliche Gespräch, sollte mit „Heil Hitler!“ begonnen und beendet werden, so dass jede Unterhaltung ein Triumph der nazistischen Sprachsteuerung, und ihre Ideologie immer gegenwärtig war.

Sprachaufbau

Die LTI (Lingua Tertii Imperii) ist darauf gerichtet den Einzelnen um sein individuelles Wesen zu bringen und seine Persönlichkeit zu betäuben. Dies gelingt einerseits durch die Art und Weise des Sprechens und Schreibens und andererseits durch den Gebrauch bestimmter Begriffe, Redewendungen, stilistischer Mittel wie Superlative und Euphemismen. Schriftsprache und Redeform waren einheitlich, jedes geschriebene Wort war Rede, musste Anrede, Anruf, Aufpeitschung sein, wurde es vorgelesen, dann mit lauter Stimme deklamierend, schreiend und beschwörend. In einem derartigen „Gesamtkunstwerk“ mit einhämmernder Rede, Fackelzügen, HJ-Trommelgruppen, langen Spruchbannern und zwischen tausenden begeisterten Menschen sollten und haben wohl auch viele Zuhörer ihren individuellen Verstand zugunsten eines deutschen Zusammengehörigkeitsgefühls mit blindem Kadavergehorsam aufge(ge)ben. Teilweise versteckte die LTI ihren wahren Inhaltsgehalt, teilweise war sie recht eindeutig, so bei der Aufforderung „dem Führer blindlings folgen“, d.h. sich unterordnen, nicht über den Befehl nachdenken – der Idealzustand nazistischen Gehorsams. Diese verheerende Wirkung der LTI nachzuvollziehen und die Gründe zu beleuchten war die Lebensaufgabe des Philologen Klemperer und mit der Herausgabe seines Buches setzte er den Anfang einer Sprachdebatte in Deutschland in Gang, deren Weg er geistig bis heute unangefochten anführt.

Volk, Reich, Rasse

In seinem Pamphlet „Mein Kampf“ zeichnete Hitler den neuen Weg der Propaganda vor, die „volkstümlich zu sein (hat) und ihr geistiges Niveau nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten einstellen (soll)“. Die geschriebene und gesprochene Sprache wurde also volkstümlich-einfacher, sprach mehr die Emotionalität als den Intellekt an, ja betäubte den Intellekt und schaltete ihn bewusst ab.
Durch die Einschwörung auf den Zusammenhalt des „deutschen Volkes“ sollte ein wohlig-warmes Zugehörigkeitsgefühl erzeugt werden, das zusammenhält gegen „die Fremden“, auch in schweren Zeiten. Erreicht wurde es durch zahlreiche Wortneuschöpfungen in dem einfach die Zusatzsilbe „Volk“ an das Wort herangefügt wurde, wie z.B. Volkfest, Volksgemeinschaft, volksfremd ... Der zweite beabsichtigte Effekt dabei war, dass der Einzelne gegenüber der Volksmasse unwichtig wird und jedes individuelle Wesen verliert, er sollte sich bedingungslos dem Volkswillen (den die NSDAP diktierte) unterwerfen – „Du bist nichts – dein Volk ist alles!“
Die Nazis liebten diese Vorsilbe, es ließ sich ja auch gut Geld damit machen, wie der reißende Absatz der Volkswagen (damals noch KdF-Wagen und sehr dienlich für militärische Nutzung) beweist, oder auch gut Einheitsbreinachrichtensoße mittels Volksempfänger („Der Rundfunk formt den deutschen Menschen im Geiste Adolf Hitlers!“) austragen. Ähnliche Wortneuschöpfungen traten mit den Vorsilben „Reich“ und „Rasse“ (bspw. Reichsparteitag, Rassenschande) auf.

Metaphern aus Religion, Technik und Medizin

Obwohl die Nazis die protestantische und katholische Kirche, insofern sie sich nicht bedingungslos, wie so viele Geistliche, der Nazi-Ideologie unterwarf, bekämpften und Religion ablehnten benutzten sie zahlreiche religiöse Verweise und Begriffe wie Reich. Diesem Wort haftet etwas feierliches an, es wirkt würdiger als „Land“ und wird im christlichen Glauben oft benutzt (Himmelreich, „Dein Reich komme“ aus dem Vaterunser).
Darüber hinaus sollte die Nazi-Ideologie als Staats-Religion funktionieren und Hitler als oberster Führer deshalb religiös-kultisch verehrt werden. So wird er als „Erlöser“, „Heiland“, „besonders ausgewählt“ bezeichnet, Tote starben „im Glauben an den Führer“ und Goebbels gab die Losung aus „Wir brauchen nicht zu wissen, was der Führer tun will – wir glauben an ihn.“ Der Gottesbezug sollte Hitler wohl vor zu schneller Kritik an der Erfolglosigkeit seiner Innen- und Außenpolitik behüten. Doch es finden sich noch mehr (indirekte) Bezüge auf die Bibel in Reden, Artikeln wie „Ihr seid auferstanden im Dritten Reich“, „Die Hand muss verdorren, die Nein schreibt“ oder religiöse Begriffe wie Vorsehung, heiliger Krieg, Kreuzzug.
Bemerkenswert ist auch die steigende Tendenz des Gebrauchs technisch-medizinisch-biologische Fachbegriffe in der Allgemeinsprache, den Behauptungen wurde damit ein scheinbar wissenschaftlicher Anstrich gegeben. Besonders auffällig hier der Übergriff aus der Sprache der Technik auf die Person selber und ihr Handeln (sich etwas aufladen, etwas groß aufziehen, etwas ankurbeln, verankern, spuren, lenken). Die Technisierung sollte von den Menschen so verinnerlicht werden, dass sie selbst wie eine Maschine funktionieren (“Jeder soll Automat in der Hand des Vorgesetzten, zugleich Druckknopfbetätiger der ihm unterstellten Automaten, sein“) und ohne ihr Gewissen zu befragen automatisch Befehle ausführen oder weitergeben.

Superlative & Co.

Beliebtes Mittel der eigenen Glorifizierung und Abwertung politischer Gegner waren die inflationär gebrauchten Superlative: jede noch so kleinste Parteiveranstaltung war „einmalig“, „einzigartig“, jede Begegnung war „historisch“, jede Entscheidung „ewig“ oder „gigantisch“. Die gefeierten Ergebnisse mussten immer mehr gesteigert werden, so dass selbst Adjektive die an sich einen Superlativ ausdrücken (total, radikal) grammatisch gesteigert wurden („Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn wenn nötig totaler und radikaler [...] ?“). Auch zahlenmäßige Übertreibungen waren an der Tagesordnung, so die jeweils immer doppelt so hohe eigene Gefangenenzahl oder die überdrehte Vision eines „tausendjährigen Reichs“. Wie in der Werbungssprache versuchten die Nazis ihre Inhalte durch Verschleierung von Sachverhalten oder deren Ausschmückung besser zu „verkaufen“.
Der bereits angesprochene Übergriff der Technik auf die Sprache wird auch in der Tendenz zum Abkürzen langer Worte oder Wortgruppen deutlich. So entstehen kurze, prägnante Schlagwörter für umständlich formulierte Begriffe wie „Nationalpolitische Bildungsanstalt“ (Napola) oder „Bund deutscher Mädel“ (BDM), gerade bei Gruppen ist es beliebt um eingeschworene Zusammengehörigkeit zu demonstrieren (HJ, DAF, SS, SA).
Die wohl wichtigste Aufgabe der Propaganda ist es oft auch unbeliebte Maßnahmen freundlich zu umschreiben und damit den Protest so klein wie möglich zu halten. Diese Art der Tarnung der Sprache durch Euphemismen (Untertreibungen) ist auch heute immer noch beliebt, doch die Nazis wurden echte Meister im Erfinden harmloser Umschreibungen wie „abholen“ für deportieren, „sich melden“ für Verhör bei der Gestapo, „abgewandert“ für verschleppt ins KZ. Vorwiegend in der Kriegssprache genutzt, übertrugen die Nazis Euphemismen auf die Alltagssprache und unterstützen damit die allgemeine Verdrängung grausamer Wahrheiten.

LTI hat überlebt

Der gebotene Überblick ist nur eine unvollständige Wiedergabe der zahlreichen Erkenntnisse Klemperers, soll aber einerseits zum weiterlesen, andererseits zum kritischeren Umgang mit unserem heutigen Sprachgebrauch auffordern. Noch immer werden nazistische Wörter benutzt, oft ohne Kenntnis der Wortherkunft, wie Überfremdung, asozial, abartig, Schwulitäten, dies zeugt von der tiefen Verankerung (sic!) der Nazisprache, dass sie selbst in der dritten Generation danach noch existiert.
Auch heutzutage ist in Kriegszeiten in der offiziellen Presse und von Regierungsvertretern eine stark euphemistische Sprache zu beanstanden, teilweise auch mit technisch-medizinischen Begriffen durchsetzt.
Eine Zusammenstellung der Berliner Zeitung zeigte diese Verschleierungstaktik besonders im diesjährigen Irak-Krieg: „bewegliche Ziele“ für menschliche Opfer, „intelligente Waffen“, „chirurgisch exakte Eingriffe“ für Bombenangriffe, „gefallene Soldaten“ für Getötete, „Operation“ und „Aktion“ statt Angriff, „dringende Geschäfte“ für Kriegshandlung, Soldaten erledigen einen „guten Job“. Der Gegner wird kategorisch negativ besetzt, Erfolge der Iraker waren „Hinterhalte“ während amerikanische Siege als „faire Kriegsmanöver“ bezeichnet wurden. Die Verben „ausschalten“ und „säubern“ gegenüber Irakern und ihrem Heimatland zeigen wohl die am deutlichsten Parallelen zur LTI, da hier genauso kalt-technisch-entmenschlicht über menschliche Wesen gesprochen wird.

Oskar Krüger