September 2003

Vom Nutzen der Reform oder die verunsicherte Bürgerin

 

Ende Juli präsentierten Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmid und CSU – Gesundheitsexperte Horst Seehofer der Öffentlichkeit den Entwurf einer Gesundheitsreform. Neuerungen gibt es viele. So sollen Zahnersatz und Sehhilfen für Erwachsene aus dem Katalog der Gesetzlichen Krankenkasse gestrichen werden. Einmal pro Quartal erheben Hausärztin oder Facharzt eine Praxisgebühr von 10 Euro. Wer bisher von der Zuzahlung befreit war, zahlt nun einen symbolischen Betrag von einem Euro. Dabei erweist sich die Bezeichnung „Praxisgebühr“ als irreführend. Denn nicht die Ärztinnen bessern ihr Einkommen auf, sondern die Krankenkassen. Das Honorar der Ärzte wird mit den Mehreinnahmen verrechnet. Doch bringt die Praxisgebühr tatsächlich den erträumten Geldsegen? Angesichts des enormen Aufwands, den die Verwaltung der Gebühr nach sich zieht, wird diese Hoffnung wohl enttäuscht werden. 10 Euro kostet demnächst auch ein Tag im Krankenhaus, sofern die Patientin weniger als 4 Wochen stationär behandelt werden muss. Die Zuzahlung für Tabletten steigt auf 2, 4 oder 6 Euro je Päckchen, für andere Arzneimittel müssen Patienten jetzt zwischen 5 und 10 Euro, insgesamt jedoch nicht mehr als 2 % ihres Einkommens (für chronisch Kranke 1 % des Einkommens) nach Abzug des Kinderfreibetrags blechen. Medikamente zur Verbesserung der privaten Lebensführung sowie verschreibungsfreie Arzneimittel werden von den Kassen in Zukunft nicht mehr getragen. Ebenso gestrichen werden Leistungen wie das Sterbegeld (in Westdeutschland), das Entbindungsgeld oder die Fahrkostenerstattung für notwendige Taxifahrten zum Arzt. Ab 2007 finanzieren Arbeitnehmerinnen ihr Krankengeld selbst. Die Kassen richten “Korruptionsbekämpfungsstellen“ ein. Darüberhinaus sollen Gesundheitszentren und ein „Deutsches Zentrum für Qualität in der Medizin“, das Heilbehandlungen stärker auf ihre Wirtschaftlichkeit überprüfen, Informationen und Berichte an Patienten weiterleiten und eine stärkere Verzahnung zwischen Krankenkassen und der Selbstverwaltung der Ärzteschaft ermöglichen soll, entstehen. Junge Fachärztinnen schließen ihre Arbeitsverträge fortan direkt mit den Krankenkassen.

Bereits ein kurzes Resumee der bevorstehenden Reform lässt erkennen, dass diese keineswegs sozial verträglich, vielmehr hochgradig unsozial ist. Begründet werden die geplanten Einschnitte mit finanziellen Problemen des Gesundheitswesens sowie der Kostenexplosion der letzten Jahre. Angeblich zurückzuführen ist die Finanzkrise des Systems auf die demographische Entwicklung und der damit verbundenen Zunahme der Zahl der Rentnerinnen und Rentner, die von den Arbeitnehmern mitfinanziert werden müssten. Dass diese Behauptung so nicht haltbar ist, wird schnell deutlich, wenn mensch die Sache etwas genauer betrachtet. Richtig ist zwar, dass Senioren häufiger und schwerer erkranken und deshalb teure und langwierige Behandlungsmethoden nötig werden. Die größten Kosten fallen bei Behandlungen kurz vor dem Tod eines Menschen an, egal ob dieser nun mit 20 oder 80 Jahren stirbt. Doch auch Oma und Opa zahlen zeitlebens, auch in Pension, Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung. Und: die arbeitende Generation finanziert nicht nur den Ruhestand alter Menschen, sondern auch das Heranwachsen ihrer Kinder. Auf Grund der hohen Geburtenrate lag die Belastung der Arbeitnehmerinnen um 1900 sogar über den heute angegebenen Werten. Des weiteren leuchtet es nicht ein, warum der als Ursache der finanziellen Schieflage angegebene Bevölkerungsschwund nicht durch offene Grenzen für Migrantinnen ausgeglichen wird. Diese zahlen regelmäßig sehr viel mehr in die Kassen der Sozialsysteme ein, als für Migranten im allgemeinen ausgegeben wird. Nun wird so manche behaupten, die hohe Arbeitslosenquote sei Schuld an der Misere. Arbeitslosigkeit macht krank, soviel ist sicher. Als Beitragzahler entfallen Arbeitslose hingegen nicht. Die BfA übernimmt die Gebühren, wenngleich diese niedriger als bei Menschen mit Beschäftigung sind. Hervorzuheben ist im Zusammenhang mit einer überdimensionalen Erwerbslosenrate etwas anderes: bei langanhaltendem Arbeitsplatzmangel sinkt das Lohnniveau und damit die Einnahmen der Kassen. Der neoliberale Abbau des Sozialstaates verstärkt die Abwärtsspirale, weil er maßgeblich mitverantwortlich für die Verarmung der Bevölkerung, und dadurch letztlich Mindereinnahmen der sozialen Sicherungssysteme, ist. Trotzdem: weder die große Zahl der Rentnerinnen noch die dauerhafte Arbeitslosigkeit allein können die Schwierigkeiten des Gesundheitssystems hinreichend erklären.

Ein kurzer Blick auf das Gesundheitssystem lässt die starke Zersplitterung der Krankenkassenlandschaft erkennen. Im Moment gibt es in Deutschland zirka 1000 Kassen. Jede Kasse unterhält ihren, zum Teil immensen, Verwaltungsapparat. Da die Verwaltungsausgaben pro Patientin mit zunehmender Versichertenzahl sinken, erscheint eine Fusion der Kassen sinnvoll. Eine weitere Lösungsmöglichkeit läge in der Unterteilung der Kassen nach bestimmten Krankheiten bei gleichzeitigem Kostenausgleich, so dass zum Beispiel Menschen mit ein und derselben chronischen Erkrankung Mitglied derselben Kasse wären. Der Vorteil bestünde darin, dass eine speziellere und effizientere Versorgung gewährleistet werden könnte. Doch die Verwaltungsstruktur der Kassen sowie des Kassensystems wurde bei der Reform nicht angetastet. Ebensowenig die Unterteilung in Private und Gesetzliche Krankenkassen. So können Besserverdienende und Beamte weiterhin in Privaten Kassen eine sehr gute Versorgung erhalten, während das Niveau der Gesetzlichen Kassen auf das medizinisch Notwendige reduziert wird. Die Abschaffung der Privaten Kassen und die Einführung der Versicherungspflicht für alle brächte den Gesetzlichen Kassen neue, zahlungskräftige Mitglieder und bewirkte, dass auch all jene, die die Kürzungen propagieren und durchsetzen, selbst davon betroffen wären. Stattdessen wurde die Position der Privaten Kassen gestärkt. Auch gesetzlich Versicherte können sich fortan eine Zusatzversicherung für Zahnersatz zulegen. Das „Deutsche Zentrum für Qualitätssicherung in der Medizin“ sorgt für eine größere „Leistungsbezogenheit“ bei Honoraren und angewandten Behandlungsmethoden. Mehr Markt, lautet die Devise. Dabei wird bewusst ignoriert, dass Krankenkassen nicht den größtmöglichen Gewinn erwirtschaften, sondern die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen sollen. Nicht die Kaufkraft, der Bedarf sollte entscheiden, ob ein Mensch medizinisch behandelt wird oder nicht. Was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte: im Kapitalismus wird es angezweifelt und schlussendlich verneint. Der Konsument ist in seiner Souveränität beschränkt: entweder er ist krank, oder nicht. Exklusionsmechanismen wirken auch hier. Die Kassen sind bestrebt, „gute Risiken“ in die Kasse hineinzuholen, „schlechte Risiken“ hingegen auszuschließen bzw. ihre Inklusion zu verteuern. Dadurch findet eine Selektion nach geschlechtsspezifischen, alterspezifischen, schichtspezifischen und physischen Gesichtspunkten statt. Frauen gelten als schlechtere Risiken, da sie eine größere durchschnittliche Lebenserwartung haben und Schwangerschaft und Geburt hohe Kosten verursachen. Sie zahlen in Privatkassen daher regelmäßig mehr als Männer. Das gleiche gilt für ältere Menschen, da mit zunehmendem Alter die Häufigkeit und Intensität der Erkrankungen zunimmt. Menschen mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen und Gendefekten schließlich haben einen sehr schweren Stand. Oftmals weigern sich Kassen, sie zu versichern. Werden sie dennoch versichert, dann gegen einen extrem hohen Beitragssatz. Wer arm ist, bleibt generell draußen, selbst als nicht – behinderter, junger Mann. Besonders prekär daran ist die Tatsache, dass Armut und Krankheit sich oft gegenseitig bedingen. Kränkliche Menschen verlieren häufiger und schneller ihren Arbeitsplatz, ältere Arbeitnehmerinnen sind bei der Jobsuche schlechter gestellt als jüngere. Krankheit und Alter können also einen sozialen Abstieg nach sich ziehen. Andersherum sind Arbeitslose überdurchschnittlich von psychosomatischen und psychischen Erkrankungen betroffen, da mit der Erwerbslosigkeit eine starke psychische Belastung verbunden ist. Menschen aus unteren Schichten werden häufiger krank, da sie unter schlechteren Lebensbedingungen leben müssen. Niedrig qualifizierte Jobs bergen ein höheres Unfall - und Gesundheitsrisiko als saubere Bürojobs. Die Angst vor Arbeitsplatzverlust ist oftmals größer als bei qualifizierteren Arbeiten. Ein privatisiertes Gesundheitssystem schließt also diejenigen von der Versorgung aus, die diese am nötigsten hätten.

Dabei sind Systeme, die auf privater Versicherung beruhen, keineswegs kostengünstiger als gesetzliche. In den USA werden 14,1 % des BIP für Gesundheit ausgegeben. In Deutschland waren es im Vergleichszeitraum nur 8,6 %. Einer der Gründe hierfür liegt im Profitstreben der Kassen. Der zu spät abgestattete Arztbesuch, billige und falsche Selbstmedikation, verschleppte Krankheiten lassen die Kosten explodieren. Die auf intakten, idealtypischen Märkten geltenden Prinzipien, zum Beispiel die Entstehung des Preises durch Angebot und Nachfrage, ist auf dem „Gesundheitsmarkt“ außer Kraft gesetzt und verteuert die Versorgung. Der Optionsfixierer diktiert dem Optionsempfänger die Bedingungen. So ist der „liberalste“ Teil im deutschen Gesundheitswesen, der Arzneimittelsektor, zugleich der ineffizienteste. Die Preisgestaltung für Medikamente ist in Deutschland, anders als in seinen europäischen Nachbarländern, frei. Die Kosten liegen denn auch 50 % höher als in besagten anderen EU – Staaten. Nur 40 % des Preises sind zur Deckung der Herstellungskosten notwendig. Patentrechtlich auf 20 Jahre geschützte, benötigte Medikamente verteuern Arznei ebenfalls. Zwar werden in der Reform auch der Pharmaindustrie mittels Anhebung des Zwangsrabattes höhere Kosten beschert. Diese belaufen sich aber lediglich auf 1 Milliarde Euro, während für die Versicherten eine Mehrbelastung von 8,6 Milliarden Euro erwartet wird. Die Stück für Stück vorangetriebene Demontage der gesetzlichen Krankenversicherung auf eine Basisversorgung dürfte in erster Linie den Gewinnen geschuldet sein, die in einem System privater Kassen winken.

Ab 2007 wird das Krankengeld allein von der Arbeitnehmerin finanziert, deren Beitragssatz sich um 0,5 % erhöhen soll. Die ursprünglich als Schutz vor ökonomischen Schwierigkeiten durch Krankheit gedachte Lohnfortzahlung wird zur eigenen, sozusagen ganz privaten, Risikoabsicherung. Ein erster Schritt aus dem Ausstieg der paritätischen Finanzierung (50% zahlt der Arbeitgeber, 50% die Arbeitnehmerin) zugunsten der Unternehmen wurde somit vollzogen. Die Ausgliederung bestimmter Leistungen (wie Zahnersatz, Sehhilfen, Sterbegeld, Entbindungsgeld, ...) sowie die geplante Anhebung der Zuzahlung dämpft keine Kosten, sondern verlagert diese in den Zuständigkeitsbereich des Versicherten. Die Entlastung der Kassen ermöglicht Beitragssenkungen, die Arbeitgeberin und Arbeitnehmer gleichermaßen zugute kommen. Nur, dass die Arbeitnehmerin auf der anderen Seite wieder, und zwar stärker als zuvor, belastet wird. Der Arbeitgeber hingegen vermag seine Kosten zu senken. Galt vor einigen Jahren ein gutes Gesundheitssystem als humankapitalerhaltend, und deshalb als volkswirtschaftlich sinnvoll, wird es auf globalisierten Arbeitsmärkten mit Arbeitskräfteüberschuss zunehmend als bloßer Kostenfaktor betrachtet.

Wahrscheinlich wird der Gesetzestext im August ohne größere Probleme Bundestag und Bundesrat passieren. Der Ausbau des Sozialsystems trug im 19. und 20. Jahrhundert wesentlich zur sozialen Befriedung bei. Es wäre an der Zeit, den sozialen Frieden in dem Maße aufzukündigen, wie sein Gegenstand verloren geht.

 

Lisa Lotta