Mai 2003

Gilt für die Kriegsgefangenen der USA das Völkerrecht?

Seit fast drei Wochen wird der Irak bombardiert. Seit die ersten Bilder von amerikanischen Soldaten in irakischer Kriegsgefangenschaft über die Bildschirme flimmern, kochen die Emotionen in den USA hoch; „völkerrechtswidrig sei es“, die Soldaten öffentlich zur Schau zu stellen! Das stimmt auch, nur halten sich die USA ebenfalls nicht an das Kriegsgefangenenrecht, was die Bilder der irakischen Gefangenen im Fernsehen beweisen. Das humanitäre Völkerrecht und damit auch das Kriegsgefangenenrecht ist von dem Gedanken der Menschlichkeit getragen. Deswegen genießen Kriegsgefangene einen besonderen Schutz. Neben dem Gedanken der Menschlichkeit ist das Kriegsvölkerrecht und insbesondere das Kriegsgefangenenrecht vom Prinzip der „Gegenseitigkeit“ getragen. Der Begriff „Gegenseitigkeit“ ist dabei abstrakt zu verstehen. Das heißt, die Motivation für die Einhaltung der rechtlichen Regeln des Kriegsvölkerrechts besteht in der (abstrakten) Erwartung, dass der Gegner diese auch einhalten wird. Abstrakt bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es auf die Selbstverpflichtung, sich an diese Regeln zu halten, nicht aber auf das tatsächliche Verhalten des Gegners im konkreten Konflikt ankommt, dass das Gegenseitigkeitsprinzip vielmehr in dem allgemeinen Rechtsprinzip der Gleichheit vor dem Recht wurzelt.
Der Kriegsgefangene darf nicht verhört werden. Er ist lediglich zur Auskunft über seine Person verpflichtet (Name, Geburtsdatum und Truppenzugehörigkeit). Er behält seine volle Rechtsfähigkeit und soll nach dem Grundsatz der Menschlichkeit behandelt und untergebracht werden, das beinhaltet auch das Verbot der öffentlichen Zurschaustellung. Folter und Vergeltungsmaßnahmen gegen Kriegsgefangene sind verboten. Religionsausübung ist ebenfalls geschützt. Die Versorgungspflicht beinhaltet nicht nur eine dem Dienstgrad entsprechende Besoldung der Offiziere, sondern auch die Pflicht alle gefangenen Soldaten in Bezug auf „Nahrung, Unterkunft und Kleidung auf demselben Fuße zu behandeln wie die Truppen der Regierung, die sie gefangen genommen hat“ (vgl. Art. 6, 17 HLKO - Haager Landkriegsordnung von 1907). Außerdem sind Kriegsgefangene nach Beendigung der aktiven Feindseligkeiten freizulassen und zu repatriieren: Durch diese Bestimmungen, die die Rechte des Kriegsgefangenen festlegen und ihn in seiner Position stützen, stellt das III. Genfer Abkommen (Genfer Kriegsgefangenenabkommen von 1949) eine der gründlichsten humanitären Kodifikationen dar. Dass die USA einen eher lockeren Umgang mit diesen Regelungen pflegen, zeigte sich erst vor gut einem Jahr im Afghanistan-Konflikt: In diesem Konflikt wurde bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt durch die USA beschlossen, gefangen genommene Kämpfer der Taliban und der Al Qaida nicht nach den Regeln der Genfer Konvention zu behandeln. Man gab ihnen den fragwürdigen Status illegaler Kombattanten. Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erlangten die Gefangenen, nachdem Fotos des Lagers „Camp X-Ray“ in Guantánamo Bay in der Presse publik gemacht wurden. Die Bilder zeigen die Gefangenen in orangen Overalls, gefesselt, mit verbundenen Augen, Ohrenschützern und Handschuhen. Dadurch sind sie, wie Amnesty International feststellt, praktisch ihrer Sinne beraubt. Ihre Köpfe sind kahlgeschoren und auch die von ihrer Religion zeugenden Bärte wurden ihnen angeblich aus hygienischen Gründen abrasiert. Die Gefangenen sind in Drahtkäfigen mit Dächern aus Wellblech untergebracht. Diese Käfige sind 2,40m mal 1,80m groß. Sie sind mit einer 2,5cm dicken Schaumstoffmatratze, einem Eimer, einer Dusche und zwei Handtüchern ausgestattet (eines der beiden Handtücher soll als Gebetsteppich dienen). Stundenlange Verhöre bestimmen den Alltag der Gefangenen. Es ist unschwer zu erkennen, dass dieser Umgang mit den Gefangenen nicht den oben dargestellten Regeln der Genfer Konvention entspricht und auch kaum mit den Menschenrechten vereinbar ist. Die in den ersten Tagen des Irak-Krieges vorgenommene Entlassung eines Teils dieser Häftlingsgruppe ist deshalb nicht als „Nachbesserung“ zu akzeptieren! Nun gibt es heute noch keine Bilder von der Behandlung irakischer Kriegsgefangenen, die derart den völkerrechtlichen Normen widerspricht, wie die Behandlung der afghanischen Kämpfer, aber allein die Tatsache, dass die USA gleich von Beginn des Krieges an, keinen Versuch unternommen haben, auf die Genfer Konvention Rücksicht zu nehmen, lässt nichts Gutes ahnen! Wie bereits erläutert, beruht die Einhaltung des Völkerrechts vor allem auf einer Selbstverpflichtung. Ein wirksames Sanktionssystem gibt es zumindest für „Supermächte“ wie die USA nicht. Als Beispiel hierfür gilt der bereits mehr als 16 Jahre zurückliegende Nicaragua-Fall (für mehr Informationen: Noam Chomsky, Warum sie uns wirklich hassen - Der Terror und die Fehler der Vergangenheit, in Le Monde diplomatique vom 14.12.2001). „ [...] Am 27. Juni 1986 entschied der IGH (Internationaler Gerichtshof in Den Haag) im Sinne Nicaraguas, verurteilte „die illegale Gewaltanwendung“ durch die USA (insofern diese nicaraguanische Häfen vermint hatten) und forderte Washington auf, seine kriminellen Praktiken zu beenden und im Übrigen eine Entschädigungssumme zu zahlen. Die Antwort der USA bestand in der Erklärung, man werde sich dem Urteil nicht beugen und den Gerichtshof nicht mehr anerkennen. “ Die impertinente Haltung der USA im Umgang mit dem Urteil des IGH ist symptomatisch für die Unwirksamkeit des völkerrechtlichen Sanktionssystems. In der Behandlung der Kriegsgefangenen wird erneut deutlich, dass die USA keinen spürbaren Widerstand zu befürchten haben, wenn sie völkerrechtliche Normen verletzen. Das humanitäre Kriegsrecht, kodifiziert in den Genfer Konventionen, soll die latente Gesetzlosigkeit des Krieges bändigen. Wenn dieser völkerrechtliche Kodex gerade von der Nation ignoriert wird, die einzig in der Lage wäre, seine Einhaltung zu garantieren, geht es um mehr als die Behandlung der Gefangenen von Guantánamo und derjenigen im Irak.
Sinn des Völkerrechts ist es, wie oben dargestellt, Willkür in bewaffneten Konflikten zu begrenzen. Wenn die abstrakte Selbstverpflichtung des Völkerrechts ihre Bindungswirkung immer dann verliert, wenn der obsiegende Teil keinen Sanktionen ausgesetzt wird beziehungsweise zu deren Beachtung nicht gezwungen werden kann, würde aus der abstrakten Gegenseitigkeit des Völkerrechts eine konkrete. Dies hätte zur Folge, dass die willkürbegrenzende Wirkung des Völkerrechts gerade durch den Einsatz von Willkür ad absurdum geführt werden könnte, denn diese beruht gerade darauf, dass sich der Schwächere auf die Einhaltung der völkerrechtlichen Regeln auch durch den Stärkeren verlassen kann.
Die USA wollen nicht, dass ihre militärische Übermacht durch völkerrechtliche Regeln eingeschränkt und durch eine internationale Gerichtsinstanz kontrolliert wird. Die Supermacht will unbelastet durch völkerrechtliche Bedenken agieren können, die Fortentwicklung des internationalen Rechts zu globalen rechtstaatlichen Strukturen ist für die USA deshalb nicht verhandlungsfähig. Deutlich wird das durch die Haltung der USA zum Projekt des Internationalen Strafgerichtshofs und aktuell durch das Ignorieren der Mehrheitsverhältnisse im Sicherheitsrat. Fehlende Sanktionsmöglichkeiten befördern nicht die Einhaltung des Völkerrechts - weder in klassischen Kriegen, noch in der Bekämpfung neuartiger bewaffneter Konflikte.
Da eine Supermacht wie die USA „immun“ gegen die Sanktionen des bestehenden Völkerrechts ist, muss ein neues Sanktionssystem entwickelt werden. Ein möglicher Ansatz wäre gerade die Stärkung des Internationalen Strafgerichtshofes und die Übertragung von exekutiven Kompetenzen auf die Vereinten Nationen.
Allerdings ist auch die Wirksamkeit z.B. eines solchen Gerichts abhängig von der Einhaltung abstrakter Selbstverpflichtungen: Nur wenn die USA die Werte, die sie zu verkörpern vorgeben, auch selbst praktizieren, kann ihre Einhaltung garantiert werden. Aufgrund der gegenwärtigen weltpolitischen Konstellationen gibt es keine militärische Macht, die die USA zur Einhaltung des Völkerrechts anhalten könnte.

Laura Heidbreder
(Jungsozialistin Charlottenburg-Wilmersdorf)