Januar
2003
Am 27.Oktober 2002
wählten rund 62% der brasilianischen Wähler Luiz Inacio da Silva zum
Präsidenten eines der größten und bevölkerungsreichsten Länder der Erde. Dieser
demokratisch errungene Sieg der brasilianischen Linken kann ohne Pathos
historisch genannt werden. Drei Mal war da Silva für die Arbeiter-Partei schon
vergeblich in den Kampf um die Präsidentschaft gezogen.
Der
vom einfachen Volk nur liebevoll Lula genannte Politiker, der vom Schuhputzer
und Maschinenschlosser zum Staatschef aufgestiegen ist, hatte schon am
6.Oktober, beim ersten Wahlgang, rund 47% der Stimmen erhalten. Sein
Herausforderer bei der Stichwahl, der ehemalige Gesundheitsminister Serra,
konnte im ersten Wahlgang als Kandidat der Regierungsparteien nur 23% der
Wähler hinter sich bringen. Auch als nun einziger Vertreter der neuen Kapital-
und Wirtschaftselite legte er im Rennen um die Präsidentschaft drei Wochen später
in der Stichwahl nur 15% zu und erhielt rund 38% der abgegebenen Stimmen.
Der
57jährige Lula, der in den späten 70er Jahren als Arbeiterführer Streiks
organisierte und so zum Ende der Herrschaft der Militärs beitrug, führte die
Arbeiter-Partei aus einer dogmatisch ideologischen Sackgasse mit Realismus in
die Mitte der armen, aber auch der mittelständischen Bevölkerung. Um kein
"ideologisierter Lula mehr zu sein", wie der Führer der
Arbeiter-Partei selbst über sich sagte,
"kein 30%-Kandidat", hat Lula nach Bündnispartnern gesucht und
ist manchen Kompromiß eingegangen. Er wird künftig keine Mehrheit in den zwei
Kammern des Parlament haben und doch soll die präsidiale Republik Brasilien
unerschrocken den Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit und ein wenig Wohlstand
für die kleinen Leute gehen. Das wird eine gefahrvolle Gradwanderung sein.
Die
Hälfte des südamerikanischen Bruttoinlandprodukts wird in Brasilien
erwirtschaftet, von jedem Dollar an Direktinvestitionen, der nach Südamerika
fließt, werden fünfzig Cent in Brasilien angelegt. Nicht mit Kaffee, nicht mit
Tropenhölzern oder Soja, sondern mit dem Export von Flugzeugen verdient
Brasilien die meisten Devisen.
Daneben
gibt es in Brasilien eine skandalöse Kluft zwischen Arm und Reich. Die
reichsten 20 Prozent der Bevölkerung verdienen rund 33 mal mehr als die ärmsten
20 Prozent. Von den 850 Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzbarer Fläche
liegen 120 Millionen Hektar brach. Diese befinden sich im Besitz weniger Großgrundbesitzer,
denen annähernd vier Millionen landlose Familien gegenüberstehen. Dazu die
brutale Kriminalität in den übervölkerten Millionenstädten, die
Chancenlosigkeit von 90% der Jugend im Bereich Bildung und Ausbildung, das
völlig unzureichende Gesundheits- und Wohnungswesen, angesichts der endlosen Favelas
(Slums) um die Zentren von Rio de Janeiro und Sao Paulo.
Die Bedrohung von außen
Mit
Bush haben die USA ihre Hegemoniebestrebungen über Lateinamerika intensiviert.
Das beweist vor allem die Gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA, zu deren
entschiedenen Gegnern Lula bislang gehört. "Entweder entscheide sich
Brasilien für die ALCA – oder für den Handel mit der Antarktis", drohte
der US-Handelsbeauftragte vor der Stichwahl. Das Schicksal des frei gewählten
linken Präsidenten Chiles, Salvador Allende, und das Ende der Volksregierung
vor 30 Jahren, sollte ein warnendes Beispiel sein. Käme es zur Konfrontation
zwischen Brasilien und den USA, werden Bush und seine Berater wieder auf Gewalt
setzen. Ein Putsch jedoch wird dafür nicht nötig sein. Heute gibt es einen
ungleich mächtigeren IWF als vor 30 Jahren, der die ökonomischen Interessen der
USA in Lateinamerika durchzusetzen vermag, ohne das sie auf Waffengewalt
zurückgreifen müssten.
Ein Programm für mehr soziale Gerechtigkeit
Die
achtgrößte Volkswirtschaft der Erde hat gewaltige Potentiale. Aber sie ist
extern wie intern hoch verschuldet und nach dem letzten Kredit über 30
Milliarden US-Dollar noch stärker vom Wohlwollen des IWF abhängig. Mit ihm wird
sich Lula nicht überwerfen können. Und dieser wird, wie in unzähligen Ländern
zuvor, dafür sorgen, dass die Interessen der großen Konzerne und Banken nicht
allzu gravierend beschnitten werden. Wenn jedoch 40% der Brasilianer so arm
sind, dass sie sich nicht ausreichend ernähren können, wird man eine Regierung
nicht tadeln, wenn sie Lebensmittel-Coupons verteilt. Eine echte Landreform
muss endlich den langjährigen Krieg um besetztes Brachland beenden und die
Feudaloligarchie wenigstens teilweise enteignen, um landlose Familien zu
produzierenden Kleinbauern zu machen, die sich und andere dann ausreichend ernähren können. Die
Arbeitsgesetzgebung wartet auf eine tiefgreifende Reform. Der Mindestlohn muss
angehoben werden. Gesundheits- und Wohnraumversorgung sind zu verbessern. Das
Steuersystem ist von bisher überwiegender Besteuerung von Lebensmitteln und
anderen Gebrauchsgütern auf eine Einkommens- und Vermögenssteuer umzustellen.
Viel zu viel für eine vierjährige Amtszeit. Klar ist: Einen grundlegenden
Wandel kann es sobald nicht geben. Die Revolution steht nicht auf der
Tagesordnung, auch wenn ihre Ziele - eine gerechte Gesellschaft – im
politischen Tagesgeschäft nicht aus den Augen verloren werden darf.
Vorbild für Lateinamerika
Wenn
die Demokratie in Lateinamerika Bestand haben soll, dann wird sie die
Lebensverhältnisse der Menschen verbessern müssen – wobei es allein in
Brasilien um Abermillionen von Menschen geht, die mit ein, zwei Dollar am Tag
am Rande des Verhungerns auskommen müssen.
Warum er nicht mehr vom Sozialismus rede, wurde Lula kurz vor der Wahl gefragt: "Ich werbe für ein Vier-Jahres-Programm. Aber wenn eine Reihe progressiver Menschen Brasilien regiert und wir es schaffen, soziale Errungenschaften voranzutreiben, dann können wir vielleicht eines Tages diese gerechte und solidarische Gesellschaft erreichen." Gelänge der Regierung Lula ein deutlicher Fortschritt, könnte sie tatsächlich, wie in der Wahl versprochen, "ein gerechteres, brüderlicheres, solidarischeres Brasilien" schaffen, wie Lula es noch einmal in der Nacht nach dem Wahlsieg seinen jubelnden Anhängern gegenüber bekräftigte – so könnte Brasilien ein Vorbild für ganz Lateinamerika werden. Nicht, dass man das brasilianische Modell eins zu eins übertragen könnte, dazu sind die Länder des Subkontinents viel zu verschieden. Aber den populistischen Rattenfängern und Statthaltern von Washingtons Gnaden, die den Staatsapparat als Beute zur Verteilung an die neoliberalen Eliten und miesen Spekulationsgewinnler missbrauchen, wäre eine demokratische, sozialstaatliche Alternative entgegengesetzt. Wenn Lula tatsächlich Erfolg hätte, dann wäre das auch die Renaissance einer lateinamerikanischen Linken, die sich nach zwanzig Jahren wieder aus dem Ghetto der politischen Bedeutungslosigkeit befreit.
Klaus
Körner