Mai 2002 

 

"Die Achse des Bösen"

über das US-amerikanische Sendungsbewußtsein

 

Präsident Bushs vollmundige Ankündigung, den Krieg gegen "die Achse des Bösen" konsequent zu führen, fügt sich folgerichtig in die sendungsbewußte, religiös verbrämte Demagogie der USA ein und kann Kenner der Geschichte der Vereinigten Staaten  nicht verwundern. Diese fundamentalistische Propaganda hat jedoch unter der geistigen Elite von Wissenschaft und Kunst sofort durch den offenen Brief von 58 Intellektuellen den Widerspruch des anderen Amerika erfahren.

"Seit 1789 haben in New York City, in Philadelphia und schließlich in der eigens geschaffenen Hauptstadt Washington D.C. amerikanische Präsidenten höchst unterschiedlichen Wesens amtiert, aber eines war ihnen vom ersten und hochverehrten Amtsinhaber, George Washington, bis zum 43. Staatsoberhaupt, George Bush jr., gemein: Das gesicherte Wissen, dass es sich bei den Vereinigten Staaten nicht um einen Staat neben anderen, sondern um ein ganz besonderes Land handele, um nicht weniger nämlich als 'God's own country', um die Hoffnung der Menschheit, um das 'neue Jerusalem', um eine Nation mit einem weltmissionarischen Auftrag" (Rolf Winter).

Walter LaFeber, Historiker an der renomierten "Cornell University" beschreibt das US-amerikanische Geschichtsbewußtsein als das einer Nation mit göttlichem Auftrag (manifest destiny), die nur mit dieser missionarischen Vision von einem Land mit ärmlicher Besiedlung durch puritanische Kolonisten in dreihundert Jahren zur Supermacht der Welt aufsteigen konnte.

Die Überzeugung, dass Gott selbst die Vereinigten Staaten schuf, damit sie die Welt erleuchte, wanderte mit den ersten europäischen Einwanderern, rekrutiert häufig aus religiösen Schwärmern und verfolgten Abspaltungen der Großkirchen, des alten Kontinents, hinüber in die Neue Welt. Viele Entbehrungen, aber auch Grausamkeiten den Ureinwohnern gegenüber resultieren aus diesem Sendungsbewußtsein. "Wir müssen bedenken", predigte John Wintrop, nachdem er 1630 in der Masachusetts Bay gelandet war, seinen Begleitern aus der Alten Welt, "dass wir wie eine Stadt auf dem Berge sind und die Augen aller Menschen auf uns ruhen" (biblische Anspielung auf die neutestamentliche Gemeinde als "Licht der Welt – Stadt auf dem Berge").

Die US-Amerikaner hatten längst schon Welterlösungsvisionen, bevor Ronald Reagan, der 40. Präsident der USA, vom "Reich des Bösen" sprach und die Welt mit einem "Krieg der Sterne" vom Einfluss des roten Ostblocks befreien wollte. Der gleiche Präsident sprach bei seiner Amtseinführung von seinem Land als von der "leuchtenden Stadt auf dem Berge" und schon zuvor erwähnte er, dass "Gott, der seine Gnade auf dieses Land gießt, immer auf uns blickte und uns als das Land führte, das das Land der Verheißung ist", nämlich das "besonders erwählte", das Land, "das die letzte große Hoffnung des Erdenmenschen ist" sowie "das Land, das nie dafür bestimmt war, das zweitbeste Land zu sein" – kurz: "eine goldene Hoffnung für die ganze Menschheit."

Bereits als drittklassige Regionalmacht im 19. Jahrhundert annektierten die USA halb Mexiko und nahmen im Namen der Freiheit Spanien die Kolonien Kuba und die Philippinen ab. Sie gaben sich auch da imperial, wo sie nur moralisch, im missionarischen Auftrag des "American dream" den Rest der Welt annektieren konnten. Jenen amerikanischen Traum, den der Harvard-Historiker Paul D. Erickson als "merkwürdigen und unterschiedlich definierten Mythos Amerikas" beschreibt, "der besagt, dass wir das auserwählte Volk sind, gesegnet von Gott, und dass wir als seine Agenten auf dieser Erde wirken."

Im "neuen Jerusalem" sollte eine für die Menschheit beispielgebende Gesellschaft entstehen, ein Vorhof zum Himmel, eine globale Wegweisung. Die Gründung der Nation, so sah es der zweite Präsident der Vereinigten Staaten John Adams, war zweifellos "ein herrlicher Plan der Vorsehung", den Rest der Menschheit, der unter beklagenswerten Umständen lebte, zu erleuchten und eines gottgesegneten Tages zum "American way of life", also zur menschlichen Vollkommenheit, zu bekehren.

 

Die Realität im "Vorhof des Himmels" sieht jedoch nicht sehr verheißungsvoll aus. Es ist ein Land voll politischer, ökonomischer und krimineller Gewalt. Von den 43 Präsidenten starben vier durch ein Attentat und fünf überlebten den Mordanschlag nur knapp. Von den vielen Präsidentschaftskandidaten und aussichtsreichen Senatoren und Gouverneuren, die keines natürlichen Todes starben, ganz zu schweigen.

Die Vereinigten Staaten sind das Land mit den meisten vollstreckten Todesurteilen neben dem Iran. Sie zelebrieren diese Hinrichtungen selbst noch im Fernsehen, das auch noch auf andere Weise durch Filme und Serien voller Gewaltverherrlichung strotzt. "Wir sind dabei", konstatierte das Nachrichtenmagazin "Newsweek" zu der Zeit, zu der die Nation wieder einmal ausländischen terroristischen Gewalttätern das Handwerk legen wollte, "eine Nation von Opfern der Gewaltkriminalität zu werden", und als Präsident George Bush sen. regierte und eine "gütigere Nation" zu formen versprach, titelte das Nachrichtenmagazin "US News": "Amerika ist voll von Beiruts, von Mordzonen und Gegenden, in die sich die Polizei nicht mehr wagt." Der Historiker Jay Martin kommt zu einem vernichtenden Urteil: "Künftige Generationen werden uns als die brutalste Kultur empfinden, die je existierte!"

In der Tat finden in dem Land, das den Erdkreis zu zivilisieren sich auf die Fahnen geschrieben hat, jährlich mehr Menschen einen gewaltsamen Tod, als pro Jahr amerikanische Soldaten in Vietnam fielen.

J. Larry Brown, ein Mediziner, der an der "Harvard-University" lehrt, stellte Ende der achtziger Jahre in einem Beitrag für "Scientific American" fest, dass im reichsten Land der Welt etwa 12 Millionen Kinder und 8 Millionen erwachsene US-Amerikaner hungern und dass 33,4 Millionen unter der amtlich festgesetzten Armutsgrenze leben. Dies entspricht etwa der Gesamtbevölkerung von Spanien. 9,4 von 100 000 weißen Kleinstkindern starben, aber 18,4 von 100 000 schwarzen Babys.

Während die Rüstungsetats der Vereinigten Staaten immer nur wuchsen und den vielfachen Overkill einkauften, kürzte beispielsweise die Regierung von 1982 bis 1987 den Sozialetat um 70 Milliarden Dollar. Seit 1978 war die Anzahl der Schwarzen, die nach der amtlichen Sprachregelung unterhalb der Armutsgrenze eher vegetierten als lebten, um 24% gestiegen, gleichzeitig aber die der Weißen um 41%, und diese Tendenz nimmt zu. Dem Mittelstand der USA ging und geht es glänzend, nur wenn er des Abends aus den Restaurants und Nobelbars den Heimweg antritt, muss er buchstäblich über die Obdachlosen, die auf den Straßen liegen, hinwegsteigen.

Der in alle Welt zu exportierende "American dream" ist augenscheinlich nur für die Hälfte der Gesellschaft ein Segen, für diejenigen, bei denen das "Geschäft läuft".

 

Der Fundamentalismus der Vereinigten Staaten, die religiöse Kostümierung einer knallharten Machtpolitik unterscheidet die herrschende Politkaste als Wortgeber des militärisch-industriellen Komplexes kaum von islamischen Fundamentalisten a la Osama bin Laden, nur dass ihnen keine Supermacht, keine willfährige NATO und keine "uneingeschränkte Solidarität" europäischer Regierungen zur Verfügung stehen. Die Vereinigten Staaten sind nicht der "große Satan", zu dem Ajatollah Khomeini die USA stempeln wollte, aber  Bin Laden ist der dunkle Zwillingsbruder des Vernichtung des "Bösen" predigenden George Bush; wie die mutige indische Schriftstellerin Arundhati Roy geschrieben hat: "Er ist der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten. Der brutale Zwilling alles angeblich Schönen und Zivilisierten. Er ist aus der Rippe einer Welt gemacht, die durch die amerikanische Außenpolitik verwüstet wurde, durch ihre Kanonenbootdiplomatie, ihr Atomwaffenarsenal, ihre unbekümmerte Politik der unumschränkten Vorherrschaft, ihre kühle Mißachtung aller nichtamerikanischen Menschenleben, ihre barbarischen Militärinterventionen, ihre Unterstützung für despotische und diktatorische Regimes, ihre wirtschaftlichen Bestrebungen, die sich gnadenlos wie ein Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer Länder gefressen haben. Ihre marodierenden Multis, die sich die Luft aneignen, die wir einatmen, die Erde, auf der wir stehen, das Wasser, das wir trinken, unsere Gedanken."

Die "Achse des Bösen" sind nicht die einzelnen Menschen in Nordkorea oder im Iran, oder aber in den USA, es sind die Machthaber und ihre Geldgeber in vielen Ländern der Welt, die diesen Planeten aus imperialen – und/oder Profitgründen zerstören, sei es nun ungeschminkt oder hinter der Maske des religiösen Fundamentalismus made in USA, vom Minaret einer Moschee oder dem Balkon des Petersdoms herunter verkündet.

Gegen diese Achse der Menschenverachtung und Weltvernichtung gilt es Widerstand zu leisten.

 

Klaus Körner