Januar 2002
Wir haben
es satt...
Erklärung von Sebastian Pflugbeil, Wolfgang Ullmann,
Hans-Jürgen Fischbeck, Christian Führer, Thomas Klein, Irena Kukutz, Walfriede Schmitt,
Hans-Jochen Vogel, Klaus Wolfram und 31 weiteren ostdeutschen Bürgerrechtlern.
Aus
eigener Erfahrung mit der Diktatur in der DDR,
aus guter Erinnerung an
politischen Druck und Widerstehen,
an Volksverdummung und
Wahrhaftigkeit,
an hohle Phrasen und aufsässige
Verse,
an militaristisches Gehabe und
grundsätzliche Gewaltlosigkeit,
an Bevormundung und Solidarität
und aus jüngster Erfahrung mit der
parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik wenden wir uns nicht an den
Bundeskanzler, nicht an Rot-Grün, nicht an die Oppositionsparteien, sondern an
Euch, einfache Bürger wie wir.
„Die Kommunikation zwischen Staat
und Gesellschaft ist offensichtlich gestört.”
Das war 1989 so. Und das gilt
heute wieder.
Wir fühlen uns in wachsendem Maße
ohnmächtig gegenüber wirtschaftlichen, militärischen und politischen
Strukturen, die für Machtgewinn und Profit unsere Interessen in lebenswichtigen
Fragen einfach ignorieren. Wir fühlen uns in unserer Auseinandersetzung mit den
aktuellen Problemen unseres Landes und der Welt mehr und mehr an die uns
wohlbekannten Übel der Diktatur erinnert.
So können wir uns zwar alle vier
Jahre bei den Wahlen für eine von vielen streitenden Parteien entscheiden.
Wir stellen jedoch fest, daß die
Programme dieser Parteien mit der Politik, die sie dann tatsächlich machen,
kaum etwas zu tun haben.
Die politischen Losungen in der
DDR waren selten lustig, sie werden in ihrer Hohlheit von den Wahlwerbungen der
Parteien heute übertroffen.
Wir haben uns über das
Abstimmverhalten der Volkskammerabgeordneten amüsiert. Angesichts des
Abstimmverhaltens der Bundestagsabgeordneten ist uns das Lachen vergangen.
Wir haben es gelernt, hohle
Phrasen und den sinnverkehrenden Gebrauch von Schlagworten zu erkennen und
schadlos an uns abperlen zu lassen:
Früher: Ewige Waffenbrüderschaft;
Unverbrüchliche Solidarität; Friedensdienst (mit der Waffe in der Hand); Erz
für den Frieden (gemeint war das Uran der WISMUT für die russischen
Atombomben); Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden; Wer nicht für
uns ist, ist gegen uns!
Heute: Kreuzzug gegen das Böse;
Ewige Freiheit; Grenzenlose Gerechtigkeit; Uneingeschränkte Solidarität;
Geschlossenheit; Wer nicht für uns ist, ist für die Terroristen!
Wir haben in der Revolution von
1989 Kopf und Kragen riskiert, um das verhaßte und verachtete System von
Bütteln und Spitzeln in der DDR zu überwinden.
Wir hatten erwartet, daß nach dem
Ende des Kalten Krieges auch die westlichen Geheimdienste abrüsten.
Keiner von uns hat jedoch damit
gerechnet, daß nach Beendigung des Kalten Krieges die Telephonabhöraktivitäten
steil ansteigen, daß die von uns abgerissenen Stasi-Videokameras nur durch neue
ersetzt werden.
Wir sind entsetzt darüber, daß heute
die Polizei zusammengestrichen und der Geheimdienst aufgeblasen wird. War denn
alles umsonst? Wir wissen, wohin so was führt.
Keiner von uns hat damit
gerechnet, daß ein schrecklicher Terroranschlag in den USA zum Anlaß genommen
werden könnte, scheinbar unumstößliche Maßstäbe von Recht und
Gerechtigkeitsgefühl in der ganzen westlichen Welt ins Rutschen zu bringen.
Wir haben nicht vergessen, wie die
Gummiparagraphen des politischen Strafrechts der DDR uns die Luft abgeschnürt
haben.
Wir greifen uns jetzt an den Hals,
wenn wir lesen, mit welcher Leichtfertigkeit das Terrorismus-Bekämpfungsgesetz
(der sogenannte Otto-Katalog) des Innenministers und die entsprechenden
Entwürfe in anderen westlichen Staaten und auf europäischer Ebene Gummistricke
drehen, die wir glücklich losgeworden zu sein gehofft hatten.
Wir sind verblüfft und entsetzt,
daß unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit mit höhnischem Gelächter und dem
süffisanten Verweis auf den Rechtsstaat beantwortet wird.
Wir sind entsetzt, wie
selbstverständlich von hochrangigen Politikern gebilligt wird, daß die
vermeintlichen Anstifter des Terroranschlags mit einer grotesk übermächtigen
Militärmaschinerie umgelegt werden. Beweise für ihre Schuld? Geheim und wohl
doch auch überflüssig! Haben deutsche Politiker bereits die amerikanische
Begeisterung für die Todesstrafe übernommen?
Wir sind entsetzt, mit welcher
Dumpfbackigkeit Gegnern des Kriegseinsatzes in Afghanistan entgegengehalten
wird, daß Krieg gegen Terroristen helfen kann.
Weshalb traut sich niemand an die
Waffenhändler in den USA und in der Bundesrepublik heran?
Weshalb versuchen die USA mit
allen Mitteln, die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs zu
verhindern?
Natürlich wollen wir, daß ein
unabhängiges Gericht und nicht der Oberbefehlshaber der stärksten Armee der
Welt entscheidet, ob die vorgelegten Beweise eine Verurteilung der
vermeintlichen Hintermänner des Terroranschlags rechtfertigen.
Wir sind entsetzt darüber, daß ganz nebenbei schon die Diskussion um die Anwendung der Folter salonfähig wird. Sind die Mächtigen in den westlichen Staaten nicht auf dem besten Wege, Verhaltensweise, Denkstruktur und Wertesystem einer Terroristenbande anzunehmen?
Wir haben es einfach satt.
Wir haben es satt, daß unter dem
Banner von Freiheit und Demokratie gegen unsere Interessen regiert wird.
Wir haben es satt, uns für dumm
verkaufen zu lassen.
Wir haben es satt, uns das platte
Geschwätz auf Parteitagen anzutun.
Wir haben Volksvertreter satt, die
unsere Interessen nicht vertreten und das auch noch als Erfolg feiern.
Wir haben einen Bundeskanzler
satt, der um der Macht willen Abgeordnete dazu bringt, ja zum Krieg zu sagen,
wenn sie nein meinen, und nein zu sagen, wenn sie ja meinen.
Wir machen nicht mit, wenn
Kriegseinsätze mit Worthülsen wie „Verantwortung übernehmen”, „der neuen Rolle
Deutschlands in der Welt”, mit „Politikfähigkeit” und „der Durchsetzung der
Rechte der Frauen” verharmlost werden.
Wir verweigern uns diesem Krieg.
Nur eine Diktatur braucht
linientreue Parteisoldaten. Demokratie braucht mündige Bürger. Lassen wir
Medien, Parteien, Kultur und Wissenschaft nicht von röhrenden Funktionären
gleichschalten.
Die erbärmlichen und
erschreckenden Umstände der Rot-Grünen Entscheidung für den Krieg lassen keinen
Raum mehr für parteitaktische Spielchen, für die Sorge um den eigenen warmen
Arsch – machen wir endlich den Mund auf!
Reden wir mit unseren Kindern und
mit unseren Eltern über diesen Krieg, über Gerechtigkeit in Deutschland und der
Welt und über die Rechtsstaatlichkeit, die uns zwischen den Fingern zu
zerrinnen droht!
Wir haben 1989 gelernt, daß es
Sinn hat, zu widersprechen.
Berlin, den 13. Dezember 2001