August
2001
Was geschah wirklich in
Genua?
Wir wollen mit unserer Zeitschrift „Rotdorn“ einen
Beitrag für eine antikapitalistische Gegenöffentlichkeit leisten. Das bedeutet,
daß wir neben Gedanken und Meinungen, die nicht in der „üblichen“ Presse zu
lesen sind, auch Informationen und Fakten liefern wollen, die sonst nicht an
die Öffentlichkeit geraten. So wurde in der Berichterstattung über die
Vorkommnisse während des G8-Gipfels in Genua manches ausgelassen, verzerrt und
sogar falsch dargestellt. Deshalb hier ein Bericht über Genua, der auf
Berichten von Augenzeugen fußt, sowie Informationen des "Rote Hilfe
e.V.".
An diesem Tag demonstrierten rund 50.000 Menschen
für die Rechte von Flüchtlingen und offene Grenzen. An der Demonstration
beteiligten sich, wie auch an den folgenden Tagen, verschiedenste
Gruppierungen: Flüchtlingsorganisationen, christliche Basisgruppen,
Gewerkschafter, Sozialisten, Umweltgruppen, Radikaldemokraten,
Antikapitalisten, Autonome und unzählige andere Gruppen aus aller Herren
Länder. Die Demo verlief in völlig friedlicher, lautstarker, kraftvoller und
entschlossener Stimmung.
Am Freitag versammelten sich 100.000 Menschen und
skandierten „Genova libera“. In sieben Demonstrationszügen aus
unterschiedlichen Punkten wurde versucht in die „red zone“ einzudringen. Als
„rote Zone“ wurde ein Teil von Genua bezeichnet, den auch die Einwohner nicht
betreten durften. Er war durch vier Meter hohe Gitter abgesperrt. Die Mächtigen
der Welt, die ihr G8-Treffen dort abhielten, waren nochmals auf einem
gesonderten Schiff untergebracht. Ziel der Demonstration war es, in diese „red
zone“ einzudringen, um denen, die über unsere Lebensbedingungen entscheiden,
„die Meinung zu sagen“. Sie sollten nicht ihre Entscheidungen treffen können,
ohne den Protest der Massen gegen die kapitalistische Globalisierung mit ihren
unsozialen, umweltvernichtenden und menschenverachtenden Folgen zu erleben. An
diesem Tag kam es zu schweren Straßenschlachten mit der Polizei, die alle
sieben Demozüge mit massivem Tränengasbeschuß und Knüppeleinsätzen angriff. Es
wurde bewußt auf eine Eskalation von Seiten der Polizei gesetzt. So schlugen
sie am Straßenrand im Takt mit ihren Knüppeln auf ihre Schilder, um Angst und
Aggression auf Seiten der Globalisierungsgegner zu erzeugen.
Als die hochgerüstete Polizei ein weiteres Mal einen
Demonstrationszug angriff, wurde einer ihrer Wagen von Demonstranten
attackiert. Als ein Polizist einen Feuerlöscher auf die Demonstranten warf
(Fotos beweisen dies), versuchte der 23-jährige Carlo Giuliani diesen
Feuerlöscher wieder an seinen Herkunftsort zu werfen. Ein italienischer
Augenzeuge berichtet, daß ein Polizist die Pistole zog und „Bastarde. Ich werde
Euch alle töten“ schrie und Carlo dann ermordete. Daraufhin wurde von den
Demonstranten beschlossen, sich zurückzuziehen, um eine noch größere Eskalation
zu vermeiden. An dieser Stelle sei daran erinnert, daß auch schon bei den
Demonstrationen bei dem EU-Gipfel in Göteborg von der Polizei Schußwaffen gegen
Demonstranten eingesetzt wurden. Es war reines Glück, daß ein Demonstrant „nur“
eine schwere Bauchverletzung durch eine Kugel erlitt und ein anderer einen
Beinschuß bekam. Schußwaffeneinsatz auf Demos gegen unbewaffnete Demonstranten
scheint also üblich zu werden, was eine neue Dimension der Polizeigewalt seit
Jahrzehnten, zumindest in Europa, darstellt. Carlo, wir werden dich nie
vergessen!!!!!
In der Presse wurde die Unterscheidung zwischen
friedlichen Demonstranten und einem „schwarzem Block“ gemacht, der für die
Eskalation verantwortlich gewesen sei. In Wahrheit gab es keinen einheitlichen
„schwarzen Block“, der alle militanten Aktionen durchführte. Stattdessen ist es
mittlerweile bewiesen, daß „eingeschleuste“ Polizeibeamte die Lage bewußt
eskalierten. Gegenwehr, man könnte auch sagen Notwehr, gab es in allen Teilen
der Demo von bunt angezogenen Menschen. Wir lassen uns nicht spalten!
Zwischen 200.000 und 300.000 Menschen demonstrierten
für eine andere, neue, antikapitalistische Welt, in der Jeder und Jede ein
würdiges Leben führen kann, in der den kommenden Generationen nicht die
Lebensgrundlagen gestohlen werden, in der nicht nur Geld und Profit zählt,
sondern Menschlichkeit. Wieder wurden die Demonstranten unterschiedslos,
grundlos, immer wieder und von allen Seiten angegriffen. Es kam zu regelrechten
Tränengasbombardements, auch vom Meer und von Hubschraubern aus. Panzerwagen
rasten längs durch die Demonstrationszüge, obwohl es für die fliehenden
Menschen keine Ausweichmöglichkeiten gab. Knüppeltrupps prügelten auf panische,
fliehende und liegengebliebene Menschen ein. Immer wieder wird berichtet, daß
auf völlig Wehrlose, auf Menschen mit erhobenen Armen und Verletzte
eingeprügelt wurde. Es gab Hunderte zum Teil schwer verletzte.
Damit war aber noch nicht genug. In der Nacht von Samstag
auf Sonntag überfiel eine Sondereinheit der Polizei die Diaz-Schule. Sie diente
den Globalisierungsgegnern als Anlaufstelle und Schlafplatz. Mit unglaublicher
Gewalt schlug die Polizei auf die etwa 90 teilweise schlafenden Menschen ein.
Alle wurden verhaftet, ohne das irgendeine Straftat von der Schule ausging.
Allein das die Schule ein Zentrum der Demonstranten darstellte, reichte aus, um
es platt zu machen. Eine Augenzeugin, die das Geschehen von außen beobachtete,
berichtet: „Schreie in voller Lautstärke, vor allem Hilferufe von Frauen. ...
Dann begannen die Krankentragen herauszukommen. Auf der ersten lag ein Mädchen
mit gespaltenem Kopf, vermutlich ohnmächtig. ... Sie ließ auf der Straße einen
viele Meter langen Blutstreifen zurück, bis hin zum Krankenwagen. ‚Mörder‘
riefen die Jugendlichen am Gebäude gegenüber.“ Eine Zeugin aus Bremen, die
Stunden nach dem Überfall die Schule betrat, berichtet: „Die ganze Schule zeugt
von einem Massaker. Blutspuren im Treppenhaus, auf den Klos, in allen Räumen, Schlafsäcken
und persönlichen Dingen der Leute, die hier die letzte Nacht verbringen
wollten, bevor es nachhause gehen sollte. Zerfetzte Computer. Mir wird in
diesem Moment klar: Wir sind zum Abschuß freigegeben. Das wird bestätigt durch
viele verstreute Infos darüber, daß Gipfelgegner überall abgegriffen werden:
auf Stränden, Autobahnen, in Bars, an Tankstellen, in Zügen, auf der Straße,
auf Campingplätzen. Niemand ist mehr sicher.“ Eine Krankenschwester aus einem
nahegelegenem Krankenhaus berichtete, daß die Verletzten in einem
unvorstellbaren, furchtbaren Zustand waren. Sie hatten komplizierte Frakturen,
eingeschlagene Schädel und ausgeschlagene Zähne.
Was sich in den Gefängnissen und Polizeiwachen
abgespielt hat, ist unglaublich. Ein Polizist berichtete der großen
italienischen Tageszeitung „La Republica“: „Das Tor ging dauernd auf, aus den
Lastwagen stiegen die Jugendlichen aus und wurden verprügelt. Sie haben sie zur
Wand gestellt. Einige haben sie angepißt ... Ein kleines Mädchen brach Blut und
die Chefs der GOM (Sondereinheit des Innenministeriums) schauten zu. Den
Mädchen drohten sie, sie mit den Knüppeln zu vergewaltigen.“ Eine Dolmetscherin
sagte über das Schicksal von einigen Italienern und Italienerinnen, die bereits
am Samstagnachmittag verhaftet worden waren, folgendes aus: „Sie mußten sich
jedoch 19 Stunden mit den Händen erhoben ohne Essen und Trinken an eine Wand
stellen. Sie gaben an, daß die Bullen offen organisierte Faschisten waren. Es
gab permanente Beschimpfungen wie ‚scheißjüdische Zigeunerin‘, der Hitlergruß
wurde gezeigt und Mussolinibilder an den Wänden gesehen. Einer Person, der
vorher die Beine gebrochen worden waren, konnte nicht an der Wand stehen, wurde
weiter geschlagen, bis sie sich irgendwie hingestellt hat. ... Weiterhin
berichten sie, daß Tränengas in die Zellen geworfen worden ist.“ Die Zeitung
„La Republica“ zitiert einen Demonstrationsteilnehmer wie folgt: „Sie zwangen
die Leute, gefälschte Protokolle zu unterschreiben, mit gefälschten Geständnissen.
... Ich hatte mein Gesicht voll Blut und einen tiefen Schnitt am Kopf, den sie
mir erst am nächsten Tag mit 20 Stichen nähten. Ich ging durch eine Hölle von
Beschimpfungen, Beleidigungen und Gewalttaten, bis ich am Samstag Nachmittag im
Gefängnis Allesandria ankam. In einer Zelle, ich kann sagen: endlich. ... Von
zwei Mittags bis neun Uhr Abends, auf den Beinen in der Sonne, das Gesicht mit
Blut überströmt, der Wunsch ohnmächtig hinzufallen und die Angst, es zu tun.
Jedes mal wenn man versuchte etwas zu sagen, folgten Beschimpfungen und
Beleidigungen vom Typ: ‚Besser wir wären in China. Dann könnten wir euch sofort
umbringen‘. Danach das Lager von Bolzaneto. Es grüßten uns die Herren in
grün-grau mit der schwarzen Jacke der GOM, die übliche Behandlung. Auf dem
Boden Knien, Fußtritte und Knüppel ... Alle haben in Bolzaneto geschlagen,
Polizei und Gefängniswärter. Aber das erschreckendste war, daß sie darüber in
Begeisterung gerieten. ... Anfangs wurde mir vorgeworfen, ich hätte ein
Molotov-Cocktail geschmissen, dann sagten sie mir, daß sie das Formular
verwechselt hätten.“ Die „Frankfurter Rundschau“ vom 3.8.2001 berichtet: „Als
sie ihn zurückbrachten, fuhren sie ihn im Rollstuhl. Sie hatten ihm beim Verhör
die Schuhe ausgezogen, ihm mit Stöcken auf die nackten Sohlen geschlagen und
dabei seinen Fuß zertrümmert.“ und weiter: „Miriam berichtet von einem Mädchen,
das mit gebrochenem Kiefer und ausgeschlagenen Zähnen in die Zelle gebracht
wurde. Im Krankenhaus hatten sie ihr nur die Lippe genäht und dann ab nach
Bolzaneto.“
Die Festnahmen erfolgten nicht nur während der
Demos. Die Gipfelgegner wurden beim schlafen angegriffen und festgenommen,
überall in Genua auch nach den Protesten abgegriffen und bei der Heimreise verhaftet.
Im folgenden will ich zwei Fälle dokumentieren, wo ganze Gruppen festgenommen
und aus fadenscheinigen Gründen angeklagt wurden.
z.B.: Theater als terroristische Vereinigung
angeklagt
Das international besetzte Theater-Ensemble „Publix
Theatre“ ist im Zusammenhang mit dem Aufstand als kriminelle Vereinigung
angeklagt. Die 25 Schauspieler tourten als aktionistische Performance-Karawane
im Rahmen der No-Border-Kampagne durch Europa. Ihnen drohen Haftstrafen bis zu
acht Jahren. Die Beweise sind ihre Theaterrequisiten sowie Fotos ihrer
Theatervorführungen. Bei der Durchsuchung des Karawanenbusses erblickte die
Polizei in der Requisitenkammer ein Waffenlager: Küchengeschirr, Taschenmesser,
Jonglierkeulen und eine kaputte Gasmaske. Besondere Aufmerksamkeit erweckten
die schwarzen T-Shirts der Schauspieler. Sie werden als Beweis dafür
herangezogen, daß es sich bei der Theatergruppe um einen Teil des „schwarzen
Block“ handele. So führte die Farbe der T-Shirts dazu, daß sie nun als
kriminelle Vereinigung angeklagt werden.
z.B. 7 Frauen und 3 Männer aus Berlin, Bremen und
dem Ruhrgebiet wegen campen angeklagt
Die Gruppe wurde am Sonntag (22.7.01) in ihren
Campingbussen auf der Autobahn kurz hinter Genua festgenommen. Sie wurden auf
der Polizeiwache geschlagen und in das Gefängnis überstellt. In den
Campingbussen wurden die deutlichen Beweise: Zeltstangen und Hämmer und
Fotomaterial gefunden. Der Richter hob hervor, daß insbesondere die Kleidung
der Gruppe verdächtig sei. Sie war teilweise schwarz, es waren Kleidungsstücke
mit Kapuze und Tücher darunter. Außerdem befand der Richter, daß es mehr
Kleidung war, als er für zehn Personen angemessen hält. Als weitere Gründe für
die Untersuchungshaft wurden die schwere der Tat (die nirgends genauer
beschrieben wird) und die Fluchtgefahr aufgrund fehlender sozialer Bindungen in
Italien genannt.
Auffällig bei allen bekannten Vorwürfen und
Haftbeschlüssen ist der völlige Mangel an konkreten Tatvorwürfen und
Tatnachweisen. Stattdessen werden absurde Anschuldigungen konstruiert. In
vielen Fällen führten schwarze T-Shirts zur Anklage einer kriminellen
Vereinigung. Fotos, auf denen Demoszenen zu sehen waren und die Tatsache nicht
auf den touristischen Routen unterwegs gewesen zu sein, reichten zur
Untersuchungshaft aus. Wir fordern als Rotdorngruppe die sofortige Freilassung
aller in Genua inhaftierten! Alle müssen raus! Wir haben einen entsprechenden
Aufruf unterstützt, dem sich auch etliche andere Gruppen aus der ganzen Welt
angeschlossen haben. In Deutschland reichen die Unterstützer von PDS- und
Gewerkschaftsgruppen bis hin zu vielen autonomen Gruppen. Ihr könnt auch etwas
tun. Schneidet die Postkarte auf der Rückseite des Rotdorn aus und schickt sie
ab nach Genua. Diese Postkartenaktion läuft schon wochenlang. Wir haben die
Postkarte vor dem Manu Chao Konzert bekommen und sofort für den Rotdorn
eingescannt. Zeigen wir den Behörden in Genua wie viele wir sind und das wir
die Gefangenen nicht vergessen haben! Die Solidarität ist unsere stärkste
Waffe!
Neben den Versuchen einer politisch motivierten
Kriminalisierung der Globalisierungsgegner und einer neuen Dimension
polizeilicher Repression und Gewalt, hat Genua aber auch und vor allem eines
gezeigt: Daß hunderttausende Männer und Frauen aus vielen verschiedenen Ländern
und aus unterschiedlichen Bereichen trotzdem willens sind, gemeinsam und
entschlossen ihren Protest gegen eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung, gegen
systematisch produzierte Armut und Naturzerstörung auf die Straße zu tragen.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Ziele – die von der Reformierung bis zur
Abschaffung des Kapitalismus reichen – und auch der Aktionsformen versammelten
sich Frauengruppen, christliche Basisgemeinden, Gewerkschafter, Sozialisten,
Naturschützer, Autonome, entwicklungspolitische Gruppen und viele mehr in
Genua, um für eine humane und sozial gerechte Welt zu kämpfen. Gemeinsam sind
wir stark!
sk