August 2001

 

 

Was geschah wirklich in Genua?

Augenzeugen berichten

 

Wir wollen mit unserer Zeitschrift „Rotdorn“ einen Beitrag für eine antikapitalistische Gegenöffentlichkeit leisten. Das bedeutet, daß wir neben Gedanken und Meinungen, die nicht in der „üblichen“ Presse zu lesen sind, auch Informationen und Fakten liefern wollen, die sonst nicht an die Öffentlichkeit geraten. So wurde in der Berichterstattung über die Vorkommnisse während des G8-Gipfels in Genua manches ausgelassen, verzerrt und sogar falsch dargestellt. Deshalb hier ein Bericht über Genua, der auf Berichten von Augenzeugen fußt, sowie Informationen des "Rote Hilfe e.V.".

 

Donnerstag, 19.7.2001

 

An diesem Tag demonstrierten rund 50.000 Menschen für die Rechte von Flüchtlingen und offene Grenzen. An der Demonstration beteiligten sich, wie auch an den folgenden Tagen, verschiedenste Gruppierungen: Flüchtlingsorganisationen, christliche Basisgruppen, Gewerkschafter, Sozialisten, Umweltgruppen, Radikaldemokraten, Antikapitalisten, Autonome und unzählige andere Gruppen aus aller Herren Länder. Die Demo verlief in völlig friedlicher, lautstarker, kraftvoller und entschlossener Stimmung.

 

Freitag

 

Am Freitag versammelten sich 100.000 Menschen und skandierten „Genova libera“. In sieben Demonstrationszügen aus unterschiedlichen Punkten wurde versucht in die „red zone“ einzudringen. Als „rote Zone“ wurde ein Teil von Genua bezeichnet, den auch die Einwohner nicht betreten durften. Er war durch vier Meter hohe Gitter abgesperrt. Die Mächtigen der Welt, die ihr G8-Treffen dort abhielten, waren nochmals auf einem gesonderten Schiff untergebracht. Ziel der Demonstration war es, in diese „red zone“ einzudringen, um denen, die über unsere Lebensbedingungen entscheiden, „die Meinung zu sagen“. Sie sollten nicht ihre Entscheidungen treffen können, ohne den Protest der Massen gegen die kapitalistische Globalisierung mit ihren unsozialen, umweltvernichtenden und menschenverachtenden Folgen zu erleben. An diesem Tag kam es zu schweren Straßenschlachten mit der Polizei, die alle sieben Demozüge mit massivem Tränengasbeschuß und Knüppeleinsätzen angriff. Es wurde bewußt auf eine Eskalation von Seiten der Polizei gesetzt. So schlugen sie am Straßenrand im Takt mit ihren Knüppeln auf ihre Schilder, um Angst und Aggression auf Seiten der Globalisierungsgegner zu erzeugen.

Als die hochgerüstete Polizei ein weiteres Mal einen Demonstrationszug angriff, wurde einer ihrer Wagen von Demonstranten attackiert. Als ein Polizist einen Feuerlöscher auf die Demonstranten warf (Fotos beweisen dies), versuchte der 23-jährige Carlo Giuliani diesen Feuerlöscher wieder an seinen Herkunftsort zu werfen. Ein italienischer Augenzeuge berichtet, daß ein Polizist die Pistole zog und „Bastarde. Ich werde Euch alle töten“ schrie und Carlo dann ermordete. Daraufhin wurde von den Demonstranten beschlossen, sich zurückzuziehen, um eine noch größere Eskalation zu vermeiden. An dieser Stelle sei daran erinnert, daß auch schon bei den Demonstrationen bei dem EU-Gipfel in Göteborg von der Polizei Schußwaffen gegen Demonstranten eingesetzt wurden. Es war reines Glück, daß ein Demonstrant „nur“ eine schwere Bauchverletzung durch eine Kugel erlitt und ein anderer einen Beinschuß bekam. Schußwaffeneinsatz auf Demos gegen unbewaffnete Demonstranten scheint also üblich zu werden, was eine neue Dimension der Polizeigewalt seit Jahrzehnten, zumindest in Europa, darstellt. Carlo, wir werden dich nie vergessen!!!!!

In der Presse wurde die Unterscheidung zwischen friedlichen Demonstranten und einem „schwarzem Block“ gemacht, der für die Eskalation verantwortlich gewesen sei. In Wahrheit gab es keinen einheitlichen „schwarzen Block“, der alle militanten Aktionen durchführte. Stattdessen ist es mittlerweile bewiesen, daß „eingeschleuste“ Polizeibeamte die Lage bewußt eskalierten. Gegenwehr, man könnte auch sagen Notwehr, gab es in allen Teilen der Demo von bunt angezogenen Menschen. Wir lassen uns nicht spalten!

 

Samstag

 

Zwischen 200.000 und 300.000 Menschen demonstrierten für eine andere, neue, antikapitalistische Welt, in der Jeder und Jede ein würdiges Leben führen kann, in der den kommenden Generationen nicht die Lebensgrundlagen gestohlen werden, in der nicht nur Geld und Profit zählt, sondern Menschlichkeit. Wieder wurden die Demonstranten unterschiedslos, grundlos, immer wieder und von allen Seiten angegriffen. Es kam zu regelrechten Tränengasbombardements, auch vom Meer und von Hubschraubern aus. Panzerwagen rasten längs durch die Demonstrationszüge, obwohl es für die fliehenden Menschen keine Ausweichmöglichkeiten gab. Knüppeltrupps prügelten auf panische, fliehende und liegengebliebene Menschen ein. Immer wieder wird berichtet, daß auf völlig Wehrlose, auf Menschen mit erhobenen Armen und Verletzte eingeprügelt wurde. Es gab Hunderte zum Teil schwer verletzte.

 

Der Überfall auf die Diaz-Schule

 

Damit war aber noch nicht genug. In der Nacht von Samstag auf Sonntag überfiel eine Sondereinheit der Polizei die Diaz-Schule. Sie diente den Globalisierungsgegnern als Anlaufstelle und Schlafplatz. Mit unglaublicher Gewalt schlug die Polizei auf die etwa 90 teilweise schlafenden Menschen ein. Alle wurden verhaftet, ohne das irgendeine Straftat von der Schule ausging. Allein das die Schule ein Zentrum der Demonstranten darstellte, reichte aus, um es platt zu machen. Eine Augenzeugin, die das Geschehen von außen beobachtete, berichtet: „Schreie in voller Lautstärke, vor allem Hilferufe von Frauen. ... Dann begannen die Krankentragen herauszukommen. Auf der ersten lag ein Mädchen mit gespaltenem Kopf, vermutlich ohnmächtig. ... Sie ließ auf der Straße einen viele Meter langen Blutstreifen zurück, bis hin zum Krankenwagen. ‚Mörder‘ riefen die Jugendlichen am Gebäude gegenüber.“ Eine Zeugin aus Bremen, die Stunden nach dem Überfall die Schule betrat, berichtet: „Die ganze Schule zeugt von einem Massaker. Blutspuren im Treppenhaus, auf den Klos, in allen Räumen, Schlafsäcken und persönlichen Dingen der Leute, die hier die letzte Nacht verbringen wollten, bevor es nachhause gehen sollte. Zerfetzte Computer. Mir wird in diesem Moment klar: Wir sind zum Abschuß freigegeben. Das wird bestätigt durch viele verstreute Infos darüber, daß Gipfelgegner überall abgegriffen werden: auf Stränden, Autobahnen, in Bars, an Tankstellen, in Zügen, auf der Straße, auf Campingplätzen. Niemand ist mehr sicher.“ Eine Krankenschwester aus einem nahegelegenem Krankenhaus berichtete, daß die Verletzten in einem unvorstellbaren, furchtbaren Zustand waren. Sie hatten komplizierte Frakturen, eingeschlagene Schädel und ausgeschlagene Zähne.

 

Mißhandlungen auf Polizeiwachen

 

Was sich in den Gefängnissen und Polizeiwachen abgespielt hat, ist unglaublich. Ein Polizist berichtete der großen italienischen Tageszeitung „La Republica“: „Das Tor ging dauernd auf, aus den Lastwagen stiegen die Jugendlichen aus und wurden verprügelt. Sie haben sie zur Wand gestellt. Einige haben sie angepißt ... Ein kleines Mädchen brach Blut und die Chefs der GOM (Sondereinheit des Innenministeriums) schauten zu. Den Mädchen drohten sie, sie mit den Knüppeln zu vergewaltigen.“ Eine Dolmetscherin sagte über das Schicksal von einigen Italienern und Italienerinnen, die bereits am Samstagnachmittag verhaftet worden waren, folgendes aus: „Sie mußten sich jedoch 19 Stunden mit den Händen erhoben ohne Essen und Trinken an eine Wand stellen. Sie gaben an, daß die Bullen offen organisierte Faschisten waren. Es gab permanente Beschimpfungen wie ‚scheißjüdische Zigeunerin‘, der Hitlergruß wurde gezeigt und Mussolinibilder an den Wänden gesehen. Einer Person, der vorher die Beine gebrochen worden waren, konnte nicht an der Wand stehen, wurde weiter geschlagen, bis sie sich irgendwie hingestellt hat. ... Weiterhin berichten sie, daß Tränengas in die Zellen geworfen worden ist.“ Die Zeitung „La Republica“ zitiert einen Demonstrationsteilnehmer wie folgt: „Sie zwangen die Leute, gefälschte Protokolle zu unterschreiben, mit gefälschten Geständnissen. ... Ich hatte mein Gesicht voll Blut und einen tiefen Schnitt am Kopf, den sie mir erst am nächsten Tag mit 20 Stichen nähten. Ich ging durch eine Hölle von Beschimpfungen, Beleidigungen und Gewalttaten, bis ich am Samstag Nachmittag im Gefängnis Allesandria ankam. In einer Zelle, ich kann sagen: endlich. ... Von zwei Mittags bis neun Uhr Abends, auf den Beinen in der Sonne, das Gesicht mit Blut überströmt, der Wunsch ohnmächtig hinzufallen und die Angst, es zu tun. Jedes mal wenn man versuchte etwas zu sagen, folgten Beschimpfungen und Beleidigungen vom Typ: ‚Besser wir wären in China. Dann könnten wir euch sofort umbringen‘. Danach das Lager von Bolzaneto. Es grüßten uns die Herren in grün-grau mit der schwarzen Jacke der GOM, die übliche Behandlung. Auf dem Boden Knien, Fußtritte und Knüppel ... Alle haben in Bolzaneto geschlagen, Polizei und Gefängniswärter. Aber das erschreckendste war, daß sie darüber in Begeisterung gerieten. ... Anfangs wurde mir vorgeworfen, ich hätte ein Molotov-Cocktail geschmissen, dann sagten sie mir, daß sie das Formular verwechselt hätten.“ Die „Frankfurter Rundschau“ vom 3.8.2001 berichtet: „Als sie ihn zurückbrachten, fuhren sie ihn im Rollstuhl. Sie hatten ihm beim Verhör die Schuhe ausgezogen, ihm mit Stöcken auf die nackten Sohlen geschlagen und dabei seinen Fuß zertrümmert.“ und weiter: „Miriam berichtet von einem Mädchen, das mit gebrochenem Kiefer und ausgeschlagenen Zähnen in die Zelle gebracht wurde. Im Krankenhaus hatten sie ihr nur die Lippe genäht und dann ab nach Bolzaneto.“

 

Wer sind die Gefangenen von Genua?

 

Die Festnahmen erfolgten nicht nur während der Demos. Die Gipfelgegner wurden beim schlafen angegriffen und festgenommen, überall in Genua auch nach den Protesten abgegriffen und bei der Heimreise verhaftet. Im folgenden will ich zwei Fälle dokumentieren, wo ganze Gruppen festgenommen und aus fadenscheinigen Gründen angeklagt wurden.

 

z.B.: Theater als terroristische Vereinigung angeklagt

Das international besetzte Theater-Ensemble „Publix Theatre“ ist im Zusammenhang mit dem Aufstand als kriminelle Vereinigung angeklagt. Die 25 Schauspieler tourten als aktionistische Performance-Karawane im Rahmen der No-Border-Kampagne durch Europa. Ihnen drohen Haftstrafen bis zu acht Jahren. Die Beweise sind ihre Theaterrequisiten sowie Fotos ihrer Theatervorführungen. Bei der Durchsuchung des Karawanenbusses erblickte die Polizei in der Requisitenkammer ein Waffenlager: Küchengeschirr, Taschenmesser, Jonglierkeulen und eine kaputte Gasmaske. Besondere Aufmerksamkeit erweckten die schwarzen T-Shirts der Schauspieler. Sie werden als Beweis dafür herangezogen, daß es sich bei der Theatergruppe um einen Teil des „schwarzen Block“ handele. So führte die Farbe der T-Shirts dazu, daß sie nun als kriminelle Vereinigung angeklagt werden.

 

z.B. 7 Frauen und 3 Männer aus Berlin, Bremen und dem Ruhrgebiet wegen campen angeklagt

Die Gruppe wurde am Sonntag (22.7.01) in ihren Campingbussen auf der Autobahn kurz hinter Genua festgenommen. Sie wurden auf der Polizeiwache geschlagen und in das Gefängnis überstellt. In den Campingbussen wurden die deutlichen Beweise: Zeltstangen und Hämmer und Fotomaterial gefunden. Der Richter hob hervor, daß insbesondere die Kleidung der Gruppe verdächtig sei. Sie war teilweise schwarz, es waren Kleidungsstücke mit Kapuze und Tücher darunter. Außerdem befand der Richter, daß es mehr Kleidung war, als er für zehn Personen angemessen hält. Als weitere Gründe für die Untersuchungshaft wurden die schwere der Tat (die nirgends genauer beschrieben wird) und die Fluchtgefahr aufgrund fehlender sozialer Bindungen in Italien genannt.

 

Auffällig bei allen bekannten Vorwürfen und Haftbeschlüssen ist der völlige Mangel an konkreten Tatvorwürfen und Tatnachweisen. Stattdessen werden absurde Anschuldigungen konstruiert. In vielen Fällen führten schwarze T-Shirts zur Anklage einer kriminellen Vereinigung. Fotos, auf denen Demoszenen zu sehen waren und die Tatsache nicht auf den touristischen Routen unterwegs gewesen zu sein, reichten zur Untersuchungshaft aus. Wir fordern als Rotdorngruppe die sofortige Freilassung aller in Genua inhaftierten! Alle müssen raus! Wir haben einen entsprechenden Aufruf unterstützt, dem sich auch etliche andere Gruppen aus der ganzen Welt angeschlossen haben. In Deutschland reichen die Unterstützer von PDS- und Gewerkschaftsgruppen bis hin zu vielen autonomen Gruppen. Ihr könnt auch etwas tun. Schneidet die Postkarte auf der Rückseite des Rotdorn aus und schickt sie ab nach Genua. Diese Postkartenaktion läuft schon wochenlang. Wir haben die Postkarte vor dem Manu Chao Konzert bekommen und sofort für den Rotdorn eingescannt. Zeigen wir den Behörden in Genua wie viele wir sind und das wir die Gefangenen nicht vergessen haben! Die Solidarität ist unsere stärkste Waffe!

 

Fazit

 

Neben den Versuchen einer politisch motivierten Kriminalisierung der Globalisierungsgegner und einer neuen Dimension polizeilicher Repression und Gewalt, hat Genua aber auch und vor allem eines gezeigt: Daß hunderttausende Männer und Frauen aus vielen verschiedenen Ländern und aus unterschiedlichen Bereichen trotzdem willens sind, gemeinsam und entschlossen ihren Protest gegen eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung, gegen systematisch produzierte Armut und Naturzerstörung auf die Straße zu tragen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ziele – die von der Reformierung bis zur Abschaffung des Kapitalismus reichen – und auch der Aktionsformen versammelten sich Frauengruppen, christliche Basisgemeinden, Gewerkschafter, Sozialisten, Naturschützer, Autonome, entwicklungspolitische Gruppen und viele mehr in Genua, um für eine humane und sozial gerechte Welt zu kämpfen. Gemeinsam sind wir stark!

 

sk