August 2001

 

Die ungerechte Wehrpflicht

 

 

Der Umbau der Bundeswehr zur reinen Interventionsarmee hat gravierende folgen für die Wehrpflicht. Durch die angestrebte Verkleinerung der Bundeswehr auf 280.000 Soldaten und die gleichzeitige Erhöhung des Anteils an Zeit- und Berufssoldaten werden zukünftig nur noch 88.100 Wehrpflichtige pro Jahr einberufen. Im Verhältnis zu der Zahl der jährlich neu erfaßten Wehrpflichtigen (mehr als 400.000) bedeutet dies, daß nur noch jeder fünfte Wehrpflichtige zum Grundwehrdienst herangezogen werden wird.

Kann man vor dem Hintergrund dieser Planungen sagen, wie viele Wehrpflichtige zukünftig nicht einberufen werden, obwohl sie für eine Einberufung zur Verfügung stünden, ist es eine andere Frage, wie viele Wehrpflichtige bereits heute nicht mehr einberufen werden können. Um mit konkreten Zahlen arbeiten und argumentieren zu können, hat die Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär zusammen mit der PDS-Fraktion im Bundestag im März dieses Jahres eine Kleine Anfrage zur Wehrgerechtigkeit an die Bundesregierung gestellt, in denen nach den Statistiken für die Jahrgänge 1970 bis 1982 gefragt wurde. Mit den Antworten liegen nun erstmals öffentlich umfassende Statistiken zur Wehr- und Dienstgerechtigkeit für diese Jahrgänge vor. Die Zahlen belegen, daß bereits heute mehr als 600.000 Wehrpflichtige nicht mehr einberufen werden können, obwohl sie für eine Einberufung zur Verfügung stehen, und daß damit bereits heute in ungeahntem Ausmaß gegen das Gebot der Wehrgerechtigkeit verstoßen wird. Diese Zahl ist eine Sensation und übertrifft selbst die Erwartungen derjenigen, die sich seit Jahren mit diesem Thema beschäftigt haben.

Mit dem Stichtag 31.12.2000 waren die jungen Männer der Jahrgänge 1973 bis 1982 wehrpflichtig. Während die Wehrpflichtigen des Jahrgangs 1982 bis zu diesem Tag ihr 18. Lebensjahr gerade vollendet hatten, waren die Wehrpflichtigen des Jahrgangs 1973 noch einberufbar, wenn sie zum Beispiel wegen ihres Studiums zurückgestellt worden waren. Auf Wehrpflichtige aus diesen zehn Jahrgängen können die Kreiswehrersatzämter zur Zeit zugreifen. Von diesen sind jene Wehrpflichtigen für eine Einberufung verfügbar, die tauglich gemustert wurden, die nicht aufgrund einer gesetzlichen oder administrativen Wehrdienstausnahme von der Wehrpflicht befreit wurden, die nicht als Kriegsdienstverweigerer anerkannt wurden und die sich nicht für einen anderen Dienst, zum Beispiel im Katastrophenschutz, verpflichtet haben. Als verfügbar werden also nur jene Wehrpflichtigen in der Statistik geführt, die auch tatsächlich für eine Einberufung zum Grundwehrdienst zur Verfügung stehen.

Unterschieden wird nur zwischen jenen, die zum 31.12.2000 uneingeschränkt für eine Einberufung zum Grundwehrdienst zur Verfügung gestanden haben, und jenen, die zu diesem Zeitpunkt zurückgestellt waren. Zurückgestellt bedeutet, daß diese Wehrpflichtigen am 31.12.2000 auf der Grundlage des § 12 des Wehrpflichtgesetzes vorübergehend nicht einberufbar waren. Die Gründe, die zu einer Zurückstellung führen, gelten jedoch immer nur befristet und enden notwendig vor Ablauf der Einberufungsgrenze. Deshalb wer­den die in dieser Rubrik aufgeführten Wehrpflichtigen in den nächsten Jahren ebenfalls alle für eine Einberufung zur Verfügung stehen.

 

Aufgeschlüsselt nach Jahrgängen, liegen folgende Zahlen vor:

 

Für eine Einberufung zum Grundwehrdienst zukünftig noch verfügbare Wehrpflichtige der Jahrgänge 1973 bis 1982

Geburtsjahrgang

Verfügbar

Zurückge­stellt

1973

350

19.032

1974

364

17.775

1975

402

16.507

1976

17.908

18.059

1977

35.009

17.306

1978

51.505

22.651

1979

61.662

38.904

1980

57.978

68.458

1981

30.615

82.537

1982

8.911

40.760

Summe

264.704

341.989

Gesamt

606.693

© Kampagne gegen Wehrpflicht

 

 

 

Angemessen läßt sich die Zahl von 606.693 jungen Männern, die gegenwärtig einberufbar sind oder in naher Zukunft einberufbar sein werden, jedoch erst beurteilen, wenn ihr die Zahl der möglichen Einberufungen in den kommenden Jahren gegenübergestellt wird. Denn die Planungen für die nächsten fünf Jahre erlauben es lediglich, 560.300 Wehrpflichtige einzuberufen, das heißt, im Jahre 2005 wären immer noch nicht alle verfügbaren Wehrpflichtigen der Jahrgänge 1973 bis 1982 herangezogen. Auf ausnahmslos alle Wehrpflichtigen, die in den nächsten fünf Jahren erfaßt und gemustert werden, müßte somit vollständig verzichtet werden, um allein die verfügbaren Wehrpflichtigen aus den Jahrgängen 1973 bis 1982 einzuberufen.

Unberücksichtigt bleibt hierbei, daß die Jahrgänge 1980, 1981 und 1982 noch nicht vollständig gemustert sind. In den nächsten drei Jahren werden aus diesen genannten Jahrgängen noch mehr als 600.000 junge Männer gemustert. Aufgrund von Erfahrungswerten läßt sich mit einiger Sicherheit sagen, daß von diesen 600.000 noch nicht gemusterten Wehrpflichtigen ungefähr 230.000 ebenfalls noch für eine Einberufung zur Verfügung stehen werden. Damit erhöht sich die Zahl der für eine Einberufung verfügbaren Wehrpflichtigen aus den Jahrgängen 1973 bis 1982 auf insgesamt über 830.000.

Angesicht dieser Zahl kann nicht mehr von einer vernachlässigbaren Größe gesprochen werden. Das Problem der Wehrgerechtigkeit ist schon heute so gravierend wie niemals zuvor.

 

Damit hat die aktuelle Wehrungerechtigkeit eine Größenordnung erreicht, die auch für das anhängige Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht relevant sein wird. Bereits 1978 hatte das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß sich die Ausgestaltung der allgemeinen Wehrpflicht an dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes zu orientieren habe. Ein offensichtliches Mißverhältnis zwischen der Zahl der verfügbaren Wehrpflichtigen und der Zahl der vorhandenen und besetzbaren Einsatzplätze widerspricht diesem Gebot einer gleichermaßen aktuellen und gleichbelastenden Pflicht. Wenn nun für mehr als eine halbe Million junger Männer die allgemeine Wehrpflicht nicht gleichermaßen aktuell und gleichbelastend ist, dann kann von Wehrgerechtigkeit keine Rede mehr sein. Die hier vorgelegten offiziellen Zahlen dokumentieren einen massiven Verstoß gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes und stellen damit die Verfassungsgemäßheit der allgemeinen Wehrpflicht grundsätzlich infrage.

 

Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär