Mai
2001
Light my fire
Ich schließe die Tür meiner
Wohnung auf und trete in die warme und dunkle Stube.
Dieser Tag war wieder anstrengend,
und so langsam fang ich an zu zweifeln, ob die Sozialarbeit das Richtige für mich
ist. Ich nehme meinen P.L.O.-Schal ab und schmeiße ihn in die linke Ecke meines
Zimmers. Es ist dunkel, denn mein Fenster ragt zum Hinterhof hinaus, in dem
kaum Sonnenstrahlen hineindringen können, weil die großen Fassaden der
Altbauten sie aufhalten.
Ich lebe schon seit Jahren hier im
Prenzlauer Berg. Im dritten Hinterhof
eines schäbigen (Abriß)Hauses habe ich mein kleines Zimmer, 20 qm groß
und dunkel eingerichtet.
Hier lebe ich also; seit neustem
wieder alleine.
Gegenüber der Eingangstür steht eine
Coach, die auch als Bett dient. Vor dem Fenster, von der Eingangstür aus rechts
gesehen, steht mein Kühlschrank, und vor der Coach ein kleiner langer Tisch aus
Holz. In der linken Ecke steht meine Schreibmaschine, da ich schon seit Jahren
dem Schreiben verfallen bin.
Ich ziehe meinen schwarzen Mantel
aus, setze mich auf die Coach.
Es dämmert. Nur noch wenige
Minuten und die Nacht würde einbrechen.
Ich sehe auf den Tisch; eine
Tasse, eine rote Kerze, ein Feuerzeug, eine Schachtel MARLBORO MENTHOL, ein Aschenbecher.
Ich nehme meine Brille ab und
werfe ein zwei Strähnen aus meinem Gesicht.
Meine Haare sind schulterlang und
tragen eine hellblaue Farbe, was früher einmal ein kräftiges dunkelblau war.
Zu Hause kann ich mich am besten
erholen. Und Erholung brauche ich, denn es ist nicht leicht, mit Punkern auf
der Straße zu arbeiten. Viel Elend und viele Drogen bestimmen meinen Alltag.
Ich habe heute z.B. wieder einen guten Freund verloren. Heute morgen gehe ich
wie fast jede Woche in das besetzte Haus, um mit den Punks dort über alles zu
sprechen. Es ist mittlerweile auch für die Punks zum Ritual geworden, weil sie
endlich jemanden gefunden haben, der sie nicht gleich abstößt, sondern ihnen
zuhört, wenn sie von ihren Problemen und vor allem von ihrer Vergangenheit zu
Hause erzählen.
Es sind alles gottverdammte
Straßen-Teenies.
Heute morgen betrete ich also den
Flur und sehe rote Kerzen auf dem Boden brennen.
Dieses Ritual habe ich schon
einmal erlebt, als einer der großen Hunde gestorben war, doch diesmal war es
kein Hund...
Ich sehe den 16jährigen PIMPEL auf
dem Boden liegen. Er regt sich nicht mehr und hält seinen rechten Arm
langgestreckt. Sein Gesicht ist kalt, weiß und blass, seine Augen sind
geschlossen...Ich sehe die Spritze neben ihm liegen. Der goldene Schuss.
HEROIN.
Es deprimiert mich zu sehen, wie
ich alles versuche, diese Leute von der Straße zu holen und letzten Endes doch
den Kürzeren ziehe.
PIMPEL hat gerne geredet, er hat
über das Leben philosophiert und viele Gedichte geschrieben, auch wenn die
Rechtschreibung zu wünschen übrig ließ.
Jetzt ist PIMPEL tot. Neben ihm
liegt sein Tagebuch.
CÄSAR, SCHNUFFI, PAUL und FABI
erlauben, daß ich es mitnehmen darf.
Dann sehe ich zum letzten Mal den
Jungen, mit dem hellgrünen Irokesenschnitt, der schon mit 14 Jahren von zu
Hause abgehauen ist, weil der Vater ihn stundenlang verprügelt hatte.
„...und letzte Woche ist erst
TÜPFELCHEN an AIDS gestorben...“fügt die 17jährige SCHNUFFI hinzu. TÜPFELCHEN
wurde auch nur 23. Er hatte sich bei einem seiner vielen Freier angesteckt.
Er brauchte das Geld für seinen
nächsten Stoff, denn auch er war wie alle anderen hier heroinsüchtig .
Wenn ich jetzt so in meiner
Wohnung sitze, darüber nachdenke, wird mir angst und bange.
Ich gehe zum Kühlschrank und gieße
mir in meine Tasse heißen Kaffee ein. Er ist pechschwarz.
Ich setze mich wieder auf mein
Bett und trinke einen Schluck. Mein Blick schweift durch das Zimmer, während
die Dunkelheit die Macht ergriffen hat. Ich zünde die Kerze an und starre in die
Flamme.
Ich lasse leise die DOORS
erklingen.
Traurige und deprimierende
Orgel-Musik ertönt und unterstreicht meine momentane Gefühlslage.
Der ganze Raum scheint von dieser
alten Orgel-Musik eingenommen zu werden. Ich rede nicht, lasse die DOORS auf mich
einwirken. „Light my fire“ singt Jim Morrison gerade, während ich langsam in
mich selbst versinke und mich der Musik voll und ganz hingebe. An meiner Wand
hängt ein großes Morrison-Poster, gleich neben dem großen A (für Anarchie), das
aus einem roten Kreis herausragt. Alles ist dunkel, nur der Schein der Kerze
erhellt den Raum.
„You know that it would be untrue, you know that I would be liar, if I
was to say to you....
Come on Baby, light my fire.“
Ich nehme wie ferngesteuert meine
Tabakdose aus der Tasche, klebe drei Zigarettenblättchen aneinander und hole
eine dunkelbraune feste Masse aus meiner Dose, die ich unter der Flamme des
Feuerzeugs zerbröseln lasse. Die Stücke fallen in den Tabak, bis ich mir die
Zigarette zurecht baue und an der Kerze entzünde.
Schwarzer Rauch steigt empor, und
ich sauge das Haschisch in meine Lunge.
Ich spüre es in meiner Lunge und
in bald auch in meinem Kopf.
Ich werde ruhiger und rauche neben
der DOORS-Musik meinen Joint.
Bald spielen die DOORS „Take it as
it comes“, während ein Gefühl der Behaglichkeit über mich kommt. Ich bin fett,
ich spüre das Blut durch meine Adern fließen.
Jeden Impuls, jedes Pulsieren,
jedes Strömen.
Meine Augen schweifen durch den
Raum, während mir die Orgel-Musik das Gefühl der 70ger gibt.
Ich rauche auf und puste den Rauch
in die Leere des Raumes. Er ist verqualmt.
Ich lege mich auf die Coach und
schließe meine Augen, denke an meine Freundin, die mich kurz zuvor verlassen
hat und empfinde ein Gefühl innerlicher Ruhe, Liebe und Unzufriedenheit.
Mir wird ein klein wenig
schwindelig, weil ich das Blut durch meinen Körper fließen merke.
Die Musik wird lauter, Morrison
scheint energischer zu werden, obgleich niemand lauter gemacht hat. Ich höre
alles deutlicher und lauter, kann somit noch besser die Musik in mich
aufnehmen.
Ich versinke ganz tief in mir, bis
sich eine Träne aus meinem linken Augenwinkel drängt und langsam
hinunterfließt, ihr folgen drei-vier andere. Ich öffne die Augen, sehe alles
verschwommen, schließe sie wieder und fange zu weinen an, als ich an der Wand
das große Loch meiner Verzweiflung erkenne.
Draußen ist es inzwischen Nacht geworden. Sie ist wie der Kaffe:
pechschwarz!
Die Kerze wirft als einzigen
Lichtspender meinen Schatten an die Wand, während ich versuche,
mit den Händen vor’m Gesicht die
Tränen aufzuhalten. Doch es scheint unmöglich.
Ich weine, denn die Ratlosigkeit
ist groß!
Alles ist schwarz.
Ich befinde mich in einer anderen
Welt, ich spüre meinen Körper;
mein Herz klopft, das Blut fließt
durch alle Gelenke, meine Augen werden glasig und schließen sich zum Weinen.
Ich empfinde nicht nur zum ersten
Mal ein Gefühl der Einsamkeit, denn meine innere Kerze ist ausgeblasen, die
innere Ruhe zerstört!
„Come on Baby, light my fire!“
andré