Mai 2001
"Im Gedenken an alle, die
Machtgier und menschlichen Unverstand zum Opfer gefallen sind, dass ihre Leiden
nicht vergebens waren, und wir aus der Geschichte zu lernen bereit sind."
Vom 20. bis zum 25. November 2000 nahm ich mit 38 weiteren
SchülerInnen der 11.Klasse an einer Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz, die vom
Pankower Rosa-Luxemburg-Gymnasium sowie vom Reinickendorfer
Friedrich-Engels-Gymnasium organisiert wurde, teil. Mein Hauptgrund dafür diese
Gedenkstättenfahrt mitzumachen, war, für die vielen Informationen die ich mir
seit längerer Zeit angeeignet hatte, Bilder zu finden und versuchen zu
verstehen.
Untergebracht waren wir in einer Jugendherberge am Stadtrand von
Kraków, und als wir nach einer achtstündigen Zugfahrt endlich ankamen, sahen
wir uns, nach einem 45-minütigen "Spaziergang", Kraków bei Nacht an.
Am nächsten Tag, einem Dienstag, hatten wir einen Stadtrundgang mit dem Thema
"Kraków während der Okkupation" der von mehreren Mitschüler
vorbereitet und durchgeführt wurde. Danach besichtigten wir noch das jüdische
Viertel, genannt "Kazimierz". Hier besichtigten wir drei Synagogen.
Am Mittwoch besuchten wir dann die Gedenkstätte Auschwitz (Stammlager), in der wir
zuerst einen Film über die Zustände im KZ nach der Befreiung sahen. Daraufhin
wurden uns unsere drei "guides" vorgestellt, die uns in drei Gruppen
durch das Konzentrationslager führten und uns mit zahlreichen Informationen
überschütteten. Zuerst gingen wir durch das Eingangstor mit dem berühmten,
makaberen Spruch "Arbeit macht frei", vorbei an je elf Steinbaracken
die in drei Reihen hintereinander standen. In der letzten Reihe waren in vier
Baracken Ausstellungen. Hier waren die unzähligen Schuhe, Brillen, Zahnbürsten,
Prothesen, Kochgeschirre und die siebentausend Kilogramm weibliche Haare
ausgestellt, und bei diesen Bildern, diesen abertausenden Koffern konnte ich
mir zum 1.Mal ungefähr vorstellen wieviele Menschen in Auschwitz ihr Leben
lassen mussten, brutal ermordet wurden. Auch die Fotoausstellungen, die viele
unveröffentlichte, heimlich aufgenommene Fotos zeigten, klären über die Verbrechen
auf die von den Nazis an inhaftierten Juden, Kommunisten, Polen, Russen,
Ungarn, Sinti und Roma und Homosexuellen begangen wurden. Nach diesen
erschütternden Eindrücken sahen wir die sogenannte Todesmauer, eine zwischen
zwei Blöcken stehende hohe Mauer, vor der viele tausende Männer und Frauen von
SS-Männern erschossen wurden. Obwohl die Sonne über meinem Kopf schien, und die
Wiesen im Lager grün sprossen, erscheinen plötzlich all die schrecklichen
Bilder von Massenerschießungen vor meinen Augen und ich starrte die Mauer wie
angewurzelt an. Hunderte von Fragen erschienen in meinem Kopf, doch ich konnte
mir das Unvorstellbare nicht erklären. Wie? Wie waren diese Menschen in der
Lage soetwas anderen Menschen anzutun? Danach verließen wir den eingezäunten
Bereich und näherten uns den SS-Gebäuden sowie der einzigen im Stammlager
stehenden Gaskammer und dem angeschlossenen Krematorium. Die Momente in der
umfunktionierten Lagerhalle und meine Gefühle in diesen Minuten sind
unbeschreibbar ... Nach dem erlebten Schock fühlte ich ein gewisses
Genugtuungsgefühl als ich den Galgen erblickte, der eigens für die Hinrichtung
vom KZ-Kommandeur Höss 1947 gegenüber des Krematoriums aufgestellt wurde.
Bedrückt und immer noch voller Fragen fuhr ich mit den Anderen
zurück in die Jugendherberge. Die Nacht verbrachten wir in Kraków und dank
unserer Verdrängungsmechanismen konnten wir Stunden später auch schon wieder
unseren Spaß haben.
Am nächsten Tag holten wir zuerst nach der Abfahrt von der
Jugendherberge unsere "Guides" ab und fuhren weiter nach
Auschwitz-Birkenau. Jeder hatte seine eigenen Vorstellungen was ihn an diesem
Ort erwarten würde.
Man könnte unsere Gefühle als ein Gemisch aus Aufregung, Erwartung
und Angst bezeichnen. Plötzlich türmte sich vor uns der riesige Wachturm auf,
durch welchen die Schienen sich ihren Weg bahnten - zur Rampe. Vor uns
erstreckte sich ein riesiges Gebiet, welches durch Gräben und den Bahnschienen
in zwei Teile geteilt wurde. Ich bin
von der unvorstellbaren Größe des Vernichtungslagers betroffen ... Auch
wenn man dieses Bild öfters in Geschichtsbüchern gesehen hatte, stand ich
plötzlich wirklich einmal davor. Rechts standen alte Holzbaracken, die früher
Pferdeställe waren, nebeneinander; sie waren für je 700 Menschen bestimmt,
waren aber oft mit bis zu 1000 Personen belegt. Links und rechts waren drei
Etagen hohe Holzstiegen gebaut. Ich kann mir nicht vorstellen, dass 5 bis 8
Menschen zusammengepfercht auf einer Etage liegen mussten. Ich kann nicht
begreifen, was für ein unvorstellbarer Hass Menschen dazu trieb andere Menschen
aufgrund oberflächlicher Eigenschaften oder andersgearteter Lebensauffassung so
zu quälen, wie Tiere zu halten und sie systematisch durch Krankheiten,
unmenschlichen Lebensumständen oder Insektengift auszurotten. Dahinter ein
Ruinenfeld - ein Meer von Schornsteinen, Überbleibsel von Holzbaracken von
denen nur noch langgestreckte Öfen und deren Schornsteine übrig sind. In
Birkenau sieht man nur das, was man weiß und wer nichts weiß oder wissen will,
der sieht dort auch nichts.
Die Steinbaracken auf der linken Seite sind fast noch alle
erhalten. Auch sie sind dunkel, kalt und unheimlich. Überall, auf den
Holzpritschen und den Wänden, sieht man "Verewigungen" wie
"Peter 1997", "Berlin 99" ... - haben diese Menschen gar
kein Feingefühl, erfassen sie überhaupt die Bedeutung der Baracken, des ganzen
Lagers, oder war die Fahrt nach Auschwitz für sie nur eine weitere Trophäe in
ihrer Reiseliste?
Auf einmal befinden wir uns auf der Rampe, auf welcher von 1942
bis 44 täglich Züge eintrafen und mit ihnen hunderte, tausende Menschen, welche
Tage oder Wochen zuvor aus ihrer Heimat, von ihren Familien, Bekannten
entrissen und gewaltsam, mit Viehzügen transportiert wurden, welche hier
standen und auf ihr weiteres Schicksal warteten. Viele von ihnen wussten nicht
was mit ihnen und ihren Kindern, Männern, Frauen, Familienangehörigen, Freunden
passieren würde, aber wir wissen es und konnten es doch nicht mehr ungeschehen
machen - ein Gefühl der Ohnmacht, Wut, Zorn packt mich.
Weiter ging es bis zu den zerstörten Gaskammern und Krematorien II
und III. Vor uns liegen große dicke Stahlbalken über denen Schutt und Steine
lagern - überall Kerzen und Blumen. Trotz der Zerstörung dieser Todesanlagen,
haben wir einen Einblick in die systematische Vernichtung von Menschen. Es ist
ein schauerlicher Anblick. Neben den 20 Lagerhallen, die zu dem Magazin
"Kanada II" gehörten, sehen wir die Ruinen der Krematorien und
Gaskammern IV und V. Davor ist eine Wiese mit Bäumen. Dort sind drei
Schaubilder angebracht die die Tötungen der ungarischen Jüdinnen und deren
Verbrennungen auf einer Wiese zeigen. In der Sekunde in der ich die Bilder
sehe, fällt mir auf, dass ich mich an den Originalplätzen dieser greulichen
Verbrechen befinde. Ich realisiere, dass die Erde auf der ich stehe aus dem
Staub von toten, gequälten Menschen besteht. Es war als ob jeder Stein der dort
lag und jeder Baum der dort stand einen Schrei der Vergangenheit darstellte.
Einen Schrei, der bis in die heutige Zeit wiederhallt, um ein Zeichen zu
setzen, gegen das Vergessen, gegen die Gleichgültigkeit und gegen das
Wiederkehren. Eines ist sicher, wir hören den Schrei noch für lange Zeit und
werden ihn wahrscheinlich nie vergessen.
Oskar Krüger