Januar 2001

 

 

Deutschland – Weltpolizist Nr.2 ?!

 

Die Wehrstrukturkommission unter Alt-Bundespräsident Weizsäcker, im März 1999 von Rudolf Scharping eingesetzt, sollte „ergebnisoffen“ - aber unter Beibehaltung der Wehrpflicht - Vorschläge zur Zukunft der Bundeswehr erarbeiten. Eine breite parlamentarische und öffentliche Debatte sollte sich nach Abschluss ihrer Arbeit im Herbst 2000 anschließen, so damals Scharping. Der Bericht der Kommission ist am 23. Mai 2000 vorzeitig vorgelegt worden. Bereits acht Tage später trat Scharping mit einem eigenen Papier an die Öffentlichkeit. Eile schien ihm geboten: Vor dem politischen und militärischen Hintergrund des Jugoslawien-Krieges sollte die Bundeswehr schnellstmöglich befähigt werden, weltweit Krieg zu führen. Eine öffentliche Diskussion darüber wollte und will er jedoch vermeiden. Scharpings Konzeption „Eckpfeiler für eine Erneuerung von Grund auf“ ist vom Kabinett am 14. Juni 2000 gebilligt worden und ist Grundlage für die komplette Umstrukturierung der Bundeswehr zur weltweiten Interventionsfähigkeit.

 

Für weltweite Kriegführung sollen als „Einsatzkräfte“ bezeichnete Truppenkontingente der Bundeswehr in einem Umfang von 150.000 Soldaten bereitgestellt werden. Priorität wird der strategischen Transportfähigkeit und der satellitengestützten Aufklärung eingeräumt. Ein „Einsatzführungskommando“ - das Wort Generalstab wird noch vermieden - soll die Einsätze im Ausland planen und führen. Deutschland soll Nato- oder EU-Einsätze als Führungsnation kommandieren oder eigenständig Kriegsoperationen außerhalb Deutschlands durchführen können. Angestrebt wird die Kapazität, „eine große Operation mit bis zu 50.000 Soldaten (...) über einen Zeitraum von bis zu einem Jahr oder zwei mittlere Operationen mit jeweils bis zu 10.000 Soldaten über mehrere Jahre sowie jeweils parallel dazu mehrere kleinere Operationen durchzuführen.“ Auf diese Weise soll die Bundeswehr innerhalb der nächsten fünf bis sechs Jahre vollständig zu einer Interventionsarmee umgebaut werden. Der Landesverteidigung, so räumen Scharping und auch das Kommissions-Papier ein, wird keine relevante Bedeutung mehr beigemessen, denn es droht kein militärischer Angriff auf deutsches oder auf Nato-Gebiet.

 

Damit entfällt endgültig jede verfassungsrechtliche Legitimation für die auf Zwang beruhende Rekrutierung von Soldaten. Einwände, die Wehrpflichtig sei notwenig, um durch sie ein Eigenleben von Streitkräften zu verhindern und eine gesellschaftliche Integration der Bundeswehr zu gewährleisten, gehen an der Realität vorbei. Wehrpflichtige dienen immer nur in den untersten Dienstgraden und sind durch das Prinzip von Befehl und Gehorsam eingebunden und haben keinen demokratisierenden oder kontrollierenden Einfluß auf Offiziere. Alle Aggressionen Deutschlands, einschließlich des rechtswidrigen Angriffs auf Jugoslawien, sind mit Wehrpflichtarmeen durchgeführt worden. Auf die weinenden deutschen Soldatenmütter wird insofern Rücksicht genommen, als zu Auslandseinsätzen ausschließlich Freiwillige abkommandiert werden und auch ausschließlich Freiwillige in Interventionseinheiten dienen.

 

Der Personalumfang der Bundeswehr soll künftig 282.000 Soldaten umfassen. Lediglich 53.000 Dienstposten sind für die Ableistung eines Grundwehrdienstes vorgesehen. Nicht einmal jeder Fünfte innerhalb der „Wehrpflichtarmee“ Bundeswehr wird zukünftig tatsächlich auch Wehrpflichtiger sein. Etwa 90.000 Wehrpflichtige können jährlich zum Wehrdienst oder zum freiwillig längeren Wehrdienst einberufen werden. Da die durchschnittliche Jahrgangsstärke bei 430.000 liegt, kann die Bundeswehr nur noch etwa jeden Fünften auch tatsächlich einberufen. Die Ableistung des Wehrdienstes wird zur Ausnahme. Die Wehrgerechtigkeit, so die Annahme des Kriegsministeriums, könne nur dann gewahrt bleiben, wenn 50 % der tauglich Gemusterten den Kriegsdienst an der Waffe verweigern. Dies würde gegenüber der derzeitigen Quote von etwa 35 % eine nochmalige deutliche Steigerung von Kriegsdienstverweigerern erfordern.

 

Unter dem Gesichtspunkt der Wehrgerechtigkeit ist die Wehrpflicht verfassungsrechtlich nur haltbar, wenn sie allgemein ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung 1978 betont: „Die allgemeine Wehrpflicht ist Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgedanken. Ihre Durchführung steht unter der Herrschaft des Art. 3 Abs. 1 GG.“ Alle im Rahmen der Wehrpflicht zur Verfügung Stehenden müssen also auch zu einem Dienst herangezogen werden. Inwieweit die Grundgesetzänderung von Oktober 2000, Frauen nicht zum Dienst an der Waffe verpflichten zu dürfen, ihnen somit freiwillig das „Recht“ auf Waffendienst zubilligt, mit dem Gleichheitsgebot in Konflikt gerät, wird in den nächsten Jahren sicherlich Gerichte beschäftigen.

 

Die Abschaffung der Wehrpflicht von unten, durch entsprechendes Verhalten der betroffenen Wehrpflichtigen, ist greifbar nahe gerückt. Jeder Wehrpflichtige müsste erst nach Erhalt einer Einberufung zur Bundeswehr den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen oder seine Einberufung hinauszögern.

Die Abschaffung der Wehrpflicht muß aber nicht nur deshalb erfolgen, um jedes Jahr 430.000 jungen Männern die demokratiefeindliche Norm der Zwangsdienste zu ersparen. Sie ist auch deshalb zu fordern, um die Kriegsführungsfähigkeit einzuschränken. Die Bundeswehr koppelt ihre Interventionskapazität mit der Wehrpflicht. Sie könnte innerhalb kurzer Zeit ihren personellen Umfang durch die Einberufung ausgebildeter Reservisten mehr als verdoppeln. Und rechtlich, darauf verweist das Kriegsministerium, spricht nichts gegen den Einsatz von Wehrpflichtigen außerhalb der „Landes- oder Bündnisverteidigung“ - auch gegen ihren Willen.

 

Festzuhalten bleibt, daß die Beibehaltung der Wehrpflicht nicht den Umbau der Bundeswehr zu einer weltweit einsatzfähigen Interventionsarmee verhindert. Die Militarisierung der deutschen Außenpolitik und die Bereitschaft, die Bundeswehr als Instrument zur Durchsetzung „nationaler Interessen“ einzusetzen, wird zielstrebig durch die rot-grüne Regierung forciert. Die Abschaffung der Wehrpflicht würde diesen Kurs nicht behindern. Aber zumindest würde die Hälfte der Menschen mit deutschem Paß zwischen 18 und 60 Jahren nicht mehr militärisch über die Wehrpflicht sozialisiert werden.

 

Ralf Siemens

Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär