Januar
2001
Auschwitz kein Ende – Teil 2
Heiner
Müller
Ein Gespräch mit jungen
französischen Regisseuren.
Berlin, September 1992
Heiner Müller, Sie haben viel über
deutsche Geschichte, vor allem aber über den Nationalsozialismus geschrieben.
Ist das ein spezifisch deutscher Theaterstoff?
Mao Tse-tung hat gesagt, der
Nationalsozialismus war unbesiegbar, solange er im Angriff war. Es war ein
Angriff ins Leere, in den leeren Raum, nur Bewegung, keine Reserven. Als der
Angriff vor Moskau zum stehen gebracht wurde, war es vorbei. Der erste Stopp
war schon das Ende. Und der Kessel von Stalingrad ist der Sarg von Attila. Der
einzig nationale Stoff sind die Nibelungen.
Ist Auschwitz nicht auch ein
nationaler Stoff? Ist es überhaupt möglich, mit diesem Stoff im Theater
umzugehen?
Das ist schwierig. Ich habe mal in
Jugoslawien mein Leben riskiert. Da gab es ein Gastspiel der Volksbühne, eine
Aufführung von SCHLACHT. Hinterher war einen Diskussion. Da habe ich
leichtsinnigerweise gesagt: Hitler war schlecht in Geographie, er hat mitten in
Europa gemacht, was ein anständiger Europäer nur in Afrika oder in Asien oder
in Lateinamerika macht. Genozid war normal in Kolonien, aber in Europa nicht
mehr üblich. Das war Hitlers Abweichung. Der andere Punkt ist, daß der deutsche
Antisemitismus wahrscheinlich deshalb so besonders grausam war, weil er auf
einem uralten Trauma beruht. Von heute aus gesehen erscheint es sehr
merkwürdig, daß die Terminologie der Nazis häufig jüdisch war, zum Beispiel das
„Tausendjährige Reich“, ein jüdischer Terminus. Bis 1933 gab es mehr
Antisemitismus in Polen, in Rußland, in Osteuropa. In Deutschland war das
verdeckter, im Gegensatz auch zu Frankreich oder den USA. Dazu gibt es eine
Theorie, die ich ganz interessant finde. Nach dem Ende Roms kamen die ersten
christlichen Missionare zu den Franken, das war der germanische Hauptstamm in
Frankreich und Deutschland. Die Missionare haben den Franken gesagt: Ihr seid
das auserwählte Volk, ihr müßt als erste das Kreuz nehmen. Und sie haben das
Kreuz genommen. Hundert Jahre später kamen die Juden nach Europa, ein anderes
auserwähltes Volk. Es kann nicht zwei auserwählte Völker geben, also mußte
eines weg. Das ist völlig irrational, aber das haben die Nazis aus dem
nationalen Unterbewußtsein wieder hochgeholt.
Das hängt auch mit der Person von
Hitler zusammen. Es gibt dazu eine Legende, daß nach dem Anschluß von
Österreich der erste geheime Befehl von Hitler gewesen sein soll, ein kleines
Dorf in Oberösterreich zu evakuieren und zu zerstören. Das wurde ein
Truppenübungsplatz.
Und es soll das Dorf gewesen sein,
wo eine von Hitlers Großmüttern begraben lag. Es lief das Gerücht um, daß diese
Großmutter eine Liaison mit einem Juden hatte. Auch daraus resultierte die
Energie von Hitler, seine Angst und sein Haß auf das eigene jüdische Blut, das
er zu haben glaubte. Ein anderer Aspekt dieser Energie ist vielleicht, daß der
Nationalsozialismus nur als eine ständige Bewegung denkbar war. Hitler hat nie
von der Partei, sondern immer von der Bewegung gesprochen. Da gibt es auch eine
Entsprechung bei Kleist: Die Deutschen wollen immer weg von sich selber, aber
diese Bewegung stößt auf Grenzen.
Das Hauptproblem waren in diesem
Zusammenhang die Juden, die waren nicht integrierbar, da war ein Widerstand.
Außerdem lieferten die Juden ein Alibi. Sie waren die Kapitalisten für die
Bevölkerung, der Ersatz für alle antikapitalistischen Energien von Links und
Rechts. Über die Geldwirtschaft kam der Kapitalismus nach Polen und Rußland. Im
Mittelalter war es nur den Juden erlaubt, Zinsen zu nehmen, weil das in der Bibel
als unchristlicher Wucher galt, also gründeten sie Bank und Leihhäuser.
Dadurch wurden Juden der ideale
Ersatzfeind. Damit hängt auch zusammen, daß der Anfang der
nationalsozialistischen Bewegung antikapitalistisch war. Es gibt Belege dafür,
daß die SA am Anfang, ab 1933, zum großen Teil aus ehemaligen deutschen
Kommunisten bestand. Dadurch ist ein Großteil linker Energie von den Nazis
aufgenommen worden.
Karl Korsch schrieb in einem Brief
an Brecht, als die Wehrmacht Kreta besetzt hatte: „Der Blitzkrieg ist
gebündelte linke Energie.“ Der Nationalsozialismus war eigentlich die größte
historische Leistung der deutschen Arbeiterklasse.
Ist das
Ihr Ernst?
Man kann es auch so formulieren:
Der Blitzkrieg oder Bewegungskrieg war nach der gescheiterten Revolution von
1848 die Herausführung der deutschen Arbeiterklasse aus dem Staus der
Ausgebeuteten in den Jägerstatus. Sie zogen in den Krieg und wurden Jäger.
Das hört man in jeder Kneipe. Die
Kriegserinnerung, das ist das große Freiheitserlebnis. Der Krieg wurde zum
Ersatz für die Revolution, genauso wie jetzt die Krawalle gegen Ausländer
wieder der Ersatz sind für die nicht zu Ende geführte Revolution.
Die Juden wurden zum Ersatzfeind,
weil man die wirklichen Kapitalisten brauchte, die haben schließlich den Krieg
finanziert. Sie standen hinter Hitler, und deswegen kam man nicht an sie ran.
Aber man hat doch auch jüdische
Kapitalisten enteignet und in den Konzentrationslagern umgebracht?
Ja, aber die kriegsentscheidenden
Industrien, vor allem die Schwerindustrie, waren in deutscher Hand; Flick,
Krupp, Thyssen. Was jetzt mit dem Osten passiert, das ist der Traum der
deutschen Industrie. Die haben es mit Hitler versucht, aber das klappte nicht.
Jetzt haben sie ihr Kriegsziel erreicht: Der Osten liegt ihnen zu Füßen, als
Markt und als Arbeitsmarkt. Es gab schon 1943 in Madrid und in London geheime
Konferenzen von deutschen britischen und amerikanischen Industriellen über die
Aufteilung der Märkte des Ostens nach dem Krieg, weil sie ahnten, mit Hitler
klappt es nicht mehr. Sie haben sich damals verrechnet und werden sich wieder
verrechnen. Sie haben Rußland nie verstanden. Da gibt es eine schöne Geschichte
von Leskow über Rußland, im Zusammenhang mit Napoleon. Leskow schreibt: Rußland
ist wie ein Sauerteig, da kann man mit der Faust reinschlagen, mit dem Stiefel
reintreten, mit der Axt reinhacken, und wenn man Stiefel oder Axt herauszieht,
quillt der Teig wieder hoch und ist wie vorher.
Haben Sie eine Erklärung für die
Aggressivität der Deutschen?
Dafür gibt es vielleicht eine
historisch - ökonomische Erklärung: Die Deutschen sind immer zu spät gekommen,
vor allem zu Aufteilung der Welt. Während Friedrich der Große seine regionalen
Kriege geführt hat, haben sich die Franzosen und Engländer die Welt aufgeteilt,
und deshalb bekamen die Deutschen keine Kolonien ab.
Dadurch wurde der deutsche
Kapitalismus der dynamischste in Europa, mit Erfindungsgeist und einer
ungeheuren Produktionskapazität, die keine Peripherie hat. Das ist eine
historisch - ökonomische Erklärung für
die spätere Erfindung des technisierten Massenmords. Wenn man Kolonien hat,
dann verteilt sich das aggressive Potential einer Nation über die gesamte Welt.
In Deutschland blieb es konzentriert.
Dazu kommen noch ein paar
Ereignisse aus der deutschen Geschichte, die den Nationalcharakter geprägt
haben. Deutschland liegt in der Mitte Europas, deshalb fanden alle Kriege
letztlich in Deutschland statt. Es war für die Deutschen nie ein Krieg denkbar,
der kein Zweifrontenkrieg war. Die Engländer oder Franzosen konnten ihre
Verbrecher nach Australien schicken oder nach Algerien. Da konnten sie
massakrieren, während in Deutschland die Verbrecher im Land blieben und damit
natürlich auch die kriminelle Energie des Kapitals. Aber es gab eine Diskrepanz
zwischen der Ideologie der Nazis und den Interessen der deutschen Industrie.
Aus der Sicht der deutschen Industrie war der Krieg vor allem ein Krieg um
Arbeitskräfte. Für die Nazis ging es aber wegen Hitlers Rassentheorien um die
Vernichtung von Arbeitskräften. Das westdeutsche Wirtschaftswunder ist ein
Ergebnis von Auschwitz. Alle großen deutsche Konzerne haben in Auschwitz
arbeiten lassen, auch in anderen Lagern, in Allianz mit der amerikanischen und
britischen Industrie.
Gibt es dafür Beweise?
Es gibt Dokumente in Washington,
aus denen hervorgeht, daß die Amerikaner schon sehr früh Flugaufnahmen von
Konzentrationslagern hatten. Churchill wußte von deren Existenz seit 1941.
Diese Erkenntnisse waren geheim, weil IG Farben, Krupp und Thyssen da ihre Produkte
ausprobiert haben, in enger Geschäftsverbindung mit amerikanischen Konzernen.
Eigentlich ging es für die Amerikaner immer um die Vernichtung der Sowjetunion.
Warum glauben Sie, gibt es von
seiten der Linken immer noch Berührungsängste mit dem jüdischen Thema?
Ich habe 1962 einen Text
geschrieben für einen Dokumentarfilm über das KZ Buchenwald. Da gab es
Material, aus dem hervorging, daß in dem Außenlager Dora, wo Teile für die V1
und für die V2 hergestellt wurden, Wernher von Braun aus und einging. Wir
wollten natürlich diese Aufnahmen in dem Film verwenden. Das wurde uns verboten
mit dem Argument, daß es im KZ Oranienburg, wo auch die V2 produziert wurde,
Dokumente gäbe, aus denen hervorgehen sollte, daß Manfred von Ardenne, der
unser Chefphysiker war, im KZ Oranienburg arbeiten ließ. Diese Forschungen
bildeten später die Grundlage für die Raumfahrt und Raumfahrtmedizin, und
Ardenne hat dann für die Russen gearbeitet. Natürlich darf man auch nicht die
ungeheure Propagandamaschine der Nazis vergessen, die es geschafft hat, einem
Großteil der Bevölkerung zu suggerieren, daß die Juden Ungeziefer sind. Die
Mehrheit des deutschen Volkes wußte aber auch deshalb nicht genau, was in den
KZs vor sich ging, weil die Westmächte ihre Informationen drüber zurückgehalten
haben, denn sie hofften, das Hitler die Sowjetunion zerschlagen würde. Hitler
war der deutsche Schäferhund, dem man eine ganz lang Leine gelassen hat, damit
er die Kommunisten wegbeißt, und dann, als er wild wurde, mußte man ihn
totschlagen.
Aber ist es nicht gefährlich, den
Nationalsozialismus auf das Phänomen Hitler zu reduzieren?
Das muß man differenzieren. Das
Gas für die Gaskammern haben nicht die Leute erfunden, die es dann angewendet
haben. Das hat die deutsche Industrie geliefert. Die wußten wofür sie es
liefern. Das waren Leute, die heute entweder in Pension sind oder immer noch in
hohen Positionen der deutschen Industrie. Geredet wir aber meist von den
Bestien in SS-Uniformen und nicht von den Bestien in den Aufsichtsräten. Ich
will damit nicht sagen, daß die SS oder die Wehrmacht unschuldig war, aber man
muß die Zusammenhänge sehen. Die Konzentrationslager waren große Unternehmen
der deutschen Industrie, die hat die Technik zur Verfügung gestellt und
ausprobiert. Die Tötungstechniken waren immer auf der Höhe der Zeit, und Folter
ist eine der ältesten Dienstleistungen der Menschheit.
Die Engländer haben die Inder vor
ihre Kanonen gebunden, die hatten nichts Besseres. Churchill war dabei, als in
Ägypten das Maschinengewehr ausprobiert wurde, da haben die Engländer ihre neue
Waffentechnik an den Afrikanern ausprobiert. Die neuen Techniken wurden immer
ausprobiert und eingesetzt gegen Minderheiten, bzw. gegen die Gefahr, daß es
Mehrheiten wurden. Alles, was es an modernen Tötungstechnologien gibt, wird
eines Tages auch eingesetzt. Der
Einsatz der Atombombe in Japan war militärisch völlig sinnlos und überflüssig,
aber es war ein Signal in Richtung Sowjetunion. Das Problem ist, das Auschwitz
eine Hemmschwelle beseitigt hat.
Ich möchte noch einmal auf die
Frage vom Anfang zurückkommen: Ist Auschwitz auch ein Stoff für das Theater?
Ich habe mal eine gute Geschichte
von Stephen King gelesen, die Geschichte eines dreizehnjährigen Jungen aus
Kalifornien. Der Junge hat ein Hobby: er sammelt Dokumente, Photos, alles war
er kriegen kann über Konzentrationslager. Sein Interesse ist: They just did those things. Die haben
das gemacht, wovon man immer träumt. Und dann sieht er eines Tages an einer
Haltestelle vom Schulbus einen alten Mann, der kommt ihm bekannt vor. Er guckt
nach in seiner Sammlung, und dann findet er den Mann in einer SS-Uniform auf
einem Photo. Am nächsten Tag an der Bushaltestelle verfolgt er diesen Mann, der
wohnt in einem kleinen Häuschen am Stadtrand. Der Junge klingelt bei ihm und zeigt
ihm das Photo. Der alte Mann zittert, er kann nicht leugnen, daß er das ist,
und denkt, das der Junge ihn anzeigen will. Aber der Junge sagt: Nein, ich will
nur, daß Sie mir erzählen, wie Sie das gemacht haben. Wie haben sie die Juden
in den Ofen geschoben, wie haben Sie die gefoltert. Der alte will nicht
erzählen, und der Junge erpreßt ihn, er sagt: Wenn Sie mir das nicht erzählen,
zeige ich Sie an. Also muß der Alte ihm alles haarklein erzählen. Irgendwann
sagt der Junge dann: Ich will das jetzt auch mal sehen. Der Alte hat einen
Kamin, und eines Tages bringt der Junge einen Hund mit und sagt: Nehmen sie den
Hund und schieben sie ihn in den Kamin. Zeigen sie mir, wie man so etwas macht.
Die beiden bilden eine Murder Incorporation, eine Mörder-GmbH, und suchen sich
zuerst Hunde, später Obdachlose und schieben die, einen nach dem anderen, in
der Kamin.
Das ist die Jugend die jetzt
aufwächst. Das Erschreckendste an den Krawallen in Rostock und Hoyerswerda ist,
daß es zu dieser Gesellschaft gehört, daß es eben kein barbarischer Auswuchs
ist, ebensowenig wie der Faschismus, der ja nur die Konsequenz der
Marktwirtschaft bedeutet.
In den USA hat man sich an diese
Form der Gewalt längst gewöhnt, nur hier ist sie neu. Es gibt zum Beispiel
einen Terminus unter deutschen Jugendbande, der heißt Bordsteinclashnig. Man
schlägt einen Ausländer nieder, und dann legt man seinen Kopf, manchmal auch
seinen offenen Mund, an den Rand des Bordsteins und springt mit den
Springerstiefeln auf seinen Kopf. Das haben die Skinheads mit einem Afrikaner
in Eberswalde gemacht. Die reden darüber, als wäre das ganz selbstverständlich.
„Da lag der Kopf, da denke ich mir, warum nicht draufspringen?“
Der Junge, der das im Fernsehen
erzählte war 19 Jahre alt, ist Werkzeugschlosser, hat Arbeit und erzählt das
ganz selbstverständlich, ohne Emotionen.
Ich möchte noch einmal auf
Auschwitz zurückkommen. Für mich ist „la grâce“, die Gnade, ein wesentlicher
Begriff im meinem Leben.
Wenn ich ihnen zuhöre, wie Sie
versuchen Auschwitz zu erklären, dann frage ich mich: Wie kann man in einer
Welt, in der so etwas möglich ist, sich noch auf Gnade berufen und eine
transzendentale Hoffnung haben?
Das ist eine gute Frage. Auschwitz
ist das Modell dieses Jahrhunderts und seines Prinzips der Selektion. Alle können
nicht überleben, also wird selektiert. Wenn ich versuche, mir klarzumachen, was
Heroismus für mich ist, fällt mir immer eine kleine Geschichte ein. Auf einem
der letzten Schiffe, das aus Deutschland ablegte und Juden in die USA bringen
sollte, war ein dicker jüdischer Sportjournalist aus Berlin. Dieses Schiff
wurde von deutschen U-Booten torpediert und sank. Es gab natürlich zu wenig
Plätze in den Rettungsbooten. Der dicke jüdische Sportjournalist saß schon in
einem der Rettungsboote, und das Boot war voll. Da stand an der Reling
plötzlich eine junge Mutter mit ihrem Kind. Aber es war kein Platz mehr in den
Booten. Da ließ der kleine, dicke Jude sich nach hinten fallen, in den
Atlantik, und dann war Platz für die Frau. Das ist die einzige Antwort, die es
gibt.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob
ich verstanden habe.
Das ist auch nicht zu verstehen.
Das ist das Dostojewski-Problem, die Raskolnikow-Frage. Auch Dostojewski findet
am Ende nur eine Antwort: Gnade.
Wenn man davon ausgeht, daß Auschwitz
das Modell der Selektion ist, dann gibt es darauf keine politische Antwort. Es
gibt wahrscheinlich nur eine religiöse Antwort. Das Problem dieser Zivilisation
ist, daß sie keine Alternative zu Auschwitz hat.
Jetzt habe ich verstanden.
Auch bei Walter Benjamin taucht
das immer wieder als Thema auf. Der Sozialismus oder der Kommunismus oder auch
irgendwelche anderen Utopien haben keine Chance, wenn sie nicht auch eine
theologische Dimension anbieten. Das ist auch Heute ein Grundproblem.
Dazu gibt es eine andere
Geschichte.
Ich habe mal in Bulgarien LSD
genommen. In dem Haus, wo wir wohnten, gab es unten eine Art Keller, ein
Waschküche, und da in der Tür saß eine große Grille. Im Radio lief türkische
oder arabische Musik, Wüstenmusik, die hatte einen merkwürdigen Sog, Musik wie
eine Fläche. Zu dem Haus gehörte eine Katze, und diese Katze kam plötzlich aus
der Tür. Ich habe der Katze die Grille gezeigt, und ich wußte genau, was
passieren würde. Nach fünf oder zehn Minuten hatte die Katze die Grille unten.
Dann hat sie die Grille die Treppe weite hoch gejagt, immer man ein bißchen
angebissen, dann wieder losgelassen,
dann wieder zugebissen. Die Grille begann zu hinken, und dazu lief diese
arabische Musik. Ich habe das genau beobachtet, in Zeitdehnung durch die Droge.
Ich habe das auch genossen und mich gleichzeitig verabscheut, weil ich das
genieße. Das werde ich nie vergessen, auch nicht, den Abscheu gegen mich und
meinen Genuß am dieser Beobachtung in Zeitlupe. Der einzige Punkt, der die
Katze von den SS-Leuten unterscheidet, ist, daß die Katze ab und zu solches
Futter braucht, damit die Magensäfte schießen. Das ist etwas Biologisches, eine
Notwendigkeit. Was den Menschen von der Katze unterscheidet, ist, daß er das
nicht notwendig braucht. Aber jede Möglichkeit der Abstraktion der Tötens senkt
die Hemmschwelle. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich einen Menschen
erstechen kann. Aber ich kann mir jederzeit vorstellen, einen Menschen zu
erschießen, und so geht das weiter. Man braucht nur noch einen Knopf zu drücken
und sieht überhaupt keine Menschen mehr, die man dadurch tötet. Die
Berichterstattung über den Golfkrieg war der Gipfel, totale Abstraktion, ein
völlig abstrakter Krieg.
All diese Computerspiele sind
Training für Auschwitz. Auschwitz ist inzwischen so verinnerlicht, daß es schon
gar nicht mehr auffällt.
Ist das ein Phänomen, das in
Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich wurde?
Nein. Ich habe in den Erinnerungen
von Roßbach, einem bekannten Freikorpsführer nach dem Ersten Weltkrieg, etwas
Merkwürdiges gelesen. Da gibt es eine Episode: Ein Mitglied der Brigade Roßbach
hat im Auftrag des Freikorps jemanden ermordet, ein Fememord. Nachdem der Mann
den Auftrag erledigt hat, trifft er Roßbach und sagt zu ihm: Es ist furchtbar,
ich weiß nicht, wie ich weiterleben soll, weshalb habe ich einen Menschen auf
diese Weise getötet, nicht im Krieg, Mann gegen Mann, sondern hinterrücks im
Auftrag. Ich kann nie wieder Menschen töten und ich werde auch kein Gewehr mehr
in die Hand nehmen.
Der Mann, der das zu Roßbach
sagte, war Rudolf Höß, der spätere Kommandant von Buchenwald und Auschwitz. Und
es gibt eine andere Geschichte aus dem KZ Oranienburg. Da gab es einen SS-Mann,
der war besonders brutal. Nach dem Krieg sind die Russen zu seiner Frau gekommen
und habe ihr erzählt, was ihr Mann im Lager getan hat. Die Frau verstand
überhaupt nichts. Er hatte doch nur seine Arbeit gemacht, und er war ein guter
Familienvater und zu den Kindern immer sehr lieb. Die Russen haben sie weiter
gefragt, ob ihr denn nichts aufgefallen sei? Da sagte sie ja, ab und zu kam er
mit blutigen Stiefeln nach Hause. Wenn sie ihn gefragt hat, wo das herkommt,
hat er gesagt: Wir haben ein Schwein geschlachtet. Die Frau hat all die Jahre
nichts gewußt. Sie hat dann ihre Kinder umgebracht, das Haus angezündet, wurde
wahnsinnig und lief schreiend durchs Moor. Zu dieser Geschichte gehört auch,
daß die Mannschaftsdienstgrade der SS in den KZs meistens Bauernsöhne waren,
sie waren daran gewöhnt, Tiere zu schlachten. Man brauchte ihnen nur noch die
Ideologie zu liefern, daß diese Häftlinge keine Menschen seinen, sonder Vieh.
Aber hatten nicht auch die
SS-Männer die Möglichkeit, solche Befehle zu verweigern, wenn sie zum Beispiel
Frauen und Kinder selektierten und ins Gas schickten?
Sicher. Dazu gibt es eine Antwort
in einem Film von Konrad Wolf. In einer Szene wird ein alter KZ-Häftling
gezeigt, der überlebt hat, weil er den Auftrag hatte, die Leichen in den Ofen
zu schieben. Das haben in den Konzentrationslagern immer Häftlinge gemacht. Und
diese Häftlinge standen jeden Tag vor der Entscheidung: Entweder du machst das,
oder Du stirbst. Wie verhält man sich in einer solchen Situation? Das ist doch
die eigentliche Frage, auch heute noch. Es gibt keine Antwort auf diese Frage,
außer daß jeder mit sich und seiner Entscheidung allein ist.