September 2000

 

 

Wann ist ein Krieg ein Krieg?

Strafe oder nicht für die Herren Schröder, Scharping, Fischer und Siemens?

 

In der Prozessserie gegen Gegner des Jugoslawien-Kriegs der Nato fand heute vor der 66. Strafkammer des Landgerichts Berlin unter Vorsitz von Richter Gahlen der Berufungsprozess gegen Ralf Siemens statt. Dem Mitarbeiter der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär wurde vorgeworfen, im Kontext des Nato-Krieges ein Anti-Kriegsplakat veröffentlicht zu haben, welches unter der Überschrift „Ja. Morden.“ und den Portraits der verantwortlichen Politiker (Schröder, Scharping, Fischer) auch den Satz „Kriegsdienste verweigern! Desertiert aus allen kriegsführenden Armeen!“ enthält. Das Plakat wurde von der Staatsanwaltschaft im Rahmen einer Haussuchung in den Räumen der Kampagne beschlagnahmt und als Aufruf zu einer Straftat - Fahnenflucht - interpretiert. In der Verhandlung vor dem Amtsgericht Berlin- Tiergarten im vergangen Dezember war der Angeklagte zu 10 Tagessätzen verurteilt worden.

Ralf Siemens kritisierte die Auffassung der Staatsanwaltschaft, wonach ein Soldat unter keinen Umständen, also auch nicht im Falle eines rechtswidrigen Einsatzes, die Truppe verlassen dürfe, als skandalös und geschichtsvergessen. Aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus wurde das Konzept des Soldaten als „Staatsbürger in Uniform“ entwickelt, der danach nicht zum bloßen Befehlsempfänger degradiert werden darf.

Dem Verteidiger Dr. Jahn von der Universität Frankfurt erscheint es fragwürdig, ob Fahnenflucht im Rahmen des Jugoslawien-Krieges überhaupt strafbar gewesen wäre. Es müsse zunächst geprüft werden, ob es sich überhaupt um einen Krieg gehandelt habe oder nicht. Und weiterhin, ob durch Angehörige der Bundeswehr (im Rahmen eines gesetzeswidrigen Krieges) Straftaten begangen worden sind. Dazu beantragte er, Verteidigungsminister Scharping als Zeugen zu hören. „Kurz: Entweder Krieg - und damit die mögliche Strafbarkeit der Bundesregierung wegen des Angriffskriegs und meines Mandanten wegen Aufrufs zur Fahnenflucht. Oder kein Krieg - und dann Straflosigkeit für die Herren Schröder, Scharping, Fischer - und Herrn Siemens“.

Um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den sachlichen und juristischen Argumenten des Antrags zu ermöglichen, wurde der Prozess auf den 3. August um 14 Uhr in Saal B 305 verlegt.

Am 3.August bestand Ralf Siemens darauf, dass Soldaten verpflichtet sind, völkerrechtswidrige Einsätze zu verlassen. Außerdem wies er darauf hin, dass viele der damaligen serbischen „Greueltaten“ heute als gezielte, von westlichen Politikern eingesetzte Propagandalügen entlarvt sind.
Richter Gahlen sah den Tatbestand der Aufforderung zu einer Straftat gegeben. Der Angeklagte möge es als einen „juristischen Kollateralschaden“ (dieses Wort wurde während des Kosovokrieges für die Tötung von Zivilisten durch NATO-Bomben von der offiziellen Propaganda gewählt) bewerten, aber eine Rechtswidrigkeit des Krieges könne er nicht erkennen. Auch ohne Beschluß des UN-Sicherheitsrats muß es ein kollektives Nothilferecht geben, um „Despoten“ nicht „freie Hand“ zu gewähren. Angesichts der aufgeheizten öffentlichen Diskussion um den Krieg räumte er dem Angeklagten allerdings das Recht auf freie Meinungsäußerung ein und bewertete dieses höher als das Verbot, zu Straftaten aufzufordern. Daher erging ein Freispruch, den er allerdings auf dem Weg durch die Gerichtsinstanzen nur als „Durchgangsstadium“ sah.

 

Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär