April 2000

 

 

 

Aus Oskar Lafontaine „Das Herz schlägt links“:

 

 

In dem Buch von Oskar Lafontaine existiert ein eigenes Kapitel „Der Kosovo-Krieg“. Wir wollen 1 Jahr nach dem Beginn der Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO das Kapitel in gekürzter Form wiedergeben (es umfaßt im Original 16 Seiten), da Beteiligung Deutschlands an dem Krieg ein großer Einschnitt war. War es doch 50 Jahre lang unvorstellbar, daß deutsche Bomben Belgrad zum dritten Mal zerstören würden.

 

Der Kosovo-Krieg

 

Zwölf Tage nach meinem Rücktritt, am 23. März 1999, beschloß die Nato, Serbien anzugreifen, um Milosevic zu zwingen, Mord und Vertreibung im Kososvo zu beenden. Gerhard Schröder gab eine Erklärung im Fernsehen ab. Er sagte: „Heute Abend hat die Nato mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe verhindern ... Die Militäraktion richtet sich nicht gegen das serbische Volk. Dies möchte ich gerade auch unseren jugoslawischen Mitbürgern sagen. Wir werden alles tun, um Verluste unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden.“

Wie wir heute wissen, ist keines dieser Ziele erreicht worden. Weder gelang es der Nato, die humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern, noch konnte sie Verluste unter der Zivilbevölkerung Serbiens vermeiden. Selbstverständlich richtete sich der Krieg, bei dem die serbische Wirtschaft und Infrastruktur zerstört wurde, auch gegen das serbische Volk. Während des Krieges kamen mir Zweifel, ob es richtig war, gleichzeitig mit dem Rücktritt vom Amt des Bundesfinanzministers auch den Vorsitz der SPD abzugeben. Die Friedens- und Entspannungspolitik Willy Brandts war für mich, wie für viele andere, einer der wesentlichsten Gründe gewesen, der SPD beizutreten. Die Zustimmung zur Kososvo-Politik Gerhard Schröders war mir von Anfang an schwergefallen. (...)

Bei den langjährigen Debatten in der SPD über die Zulässigkeit solcher Militäraktionen hatte Christoph Zöpel einmal argumentiert, Militäreinsätze, die die Verletzung von Menschenrechten verhindern sollen, seien eher als Polizeieinsätze zu betrachten. So kann man das sehen. Was würde man aber von einer Polizei halten, die, wenn sie erführe, dass Verbrecher von A nach B zögen, um in  B zu plündern und zu morden, Polizeikräfte nach A schicken würde, um dort die Infrastruktur zu zerstören? Die Verantwortlichen würden sofort zum Teufel gejagt. Aber bei grenzüberschreitenden Polizeieinsätzen ist das offensichtlich anders. (...)

Zu Recht urteilte Rudolf Augstein: „Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedingungen gestellt, die kein Serbe mit Schulbildung hätte unterschreiben können.“ (...)

... angesichts der Tatsache, daß ich ohnehin fest entschlossen war zurückzutreten, wird man es mir abnehmen, daß ich den Kriegseintritt unter diesen Bedingungen ebenfalls zum Anlaß eines Rücktritts genommen hätte. Selbst wenn man den Militäreinsatz als unvermeidbar ansah, war die politische und militärische Vorgehensweise der Nato fahrlässig und verantwortungslos.

Ich machte mir in den ersten Tagen des Krieges Vorwürfe, daß ich aus falsch verstandener Loyalität den drohenden Kososvo-Krieg in der SPD nicht früher thematisiert hatte. Zu lange hatte ich darauf gesetzt, daß die Nato ihre Drohungen nicht wahr machen würde. Nur mit einem eindeutigen Beschluß der Partei im Rücken hätte ich den Gang der Dinge vielleicht noch beeinflussen können. Ich habe allerdings Zweifel, ob ein solcher Parteitagsbeschluß ausgereicht hätte. Wahrscheinlich hätte ich nur als Bundeskanzler den Beginn des Krieges aufhalten können. Ich hätte darauf bestanden, den UNO-Sicherheitsrat, Rußland und China einzubinden und militärische Planungen nicht zu akzeptieren, die, statt Mord und Vertreibung zu beenden, das Gegenteil bewirken. (...)

78 Tage und Nächte hat die Nato Jugoslawien bombardiert. Die Luftwaffel flog 36000 Einsätze. Zurückgeblieben ist ein zerstörtes Land. Niedergebrannte Ortschaften im Kosovo, zerstörte Schulen, Krankenhäuser, Fabriken, zerstörte Straßen, Brücken, Energie- und Wasserversorgungsanlagen in Serbien sind neben Tod und Vertreibung die Bilanz des Krieges. Das peinliche Feilschen um die Verteilung der Wiederaufbaulasten hat begonnen. Die Europäische Kommission schätzt, daß 60 Milliarden DM notwendig sind, um das zerstörte Jugoslawien wiederaufzubauen. (...)

Unmittelbar nach dem Einstellen der Kriegshandlungen zeigte sich, daß Waffenstillstand nicht gleichzusetzen ist mit Frieden. In früheren Reden hatte ich immer den Satz eingeflochten: „Unter Bombenteppichen wächst kein Friede.“ Die Serben werden jetzt aus dem Kosovo vertrieben. (...)

Zornig war ich über die Rolle der Grünen. Ich hatte die rot-grüne Koalition gewollt, weil ich hoffte, für eine auf friedliche Lösung setzende Außenpolitik die Unterstützung der Grünen zu erhalten. Aber die Grünen hatten, wie Herbert Prantl in der Süddeutschen Zeitung schrieb, den Pazifismus aus ihrem Souffleurkasten vertrieben. Fragen mit pazifistischem Grundansatz galten in den Fraktionssitzungen der Grünen als degoutant. In der Debatte um den Kosovo-Krieg tauchte das Problem der Konvertiten auf, das ich aus Katholizismus und Protestantismus kannte. Der Konvertit wird vom Saulus zum Paulus. Er tauscht seinen Glauben, seine Weltanschauung gegen eine neue aus und vertritt diese mit noch größerer Überzeugung.  Aus dem Slogan „Frieden schaffen ohne Waffen“ wird „Frieden schaffen mit aller Gewalt.“

Joschka Fischer beispielsweise hatte einmal gesagt: „Ich wünsche mir, daß unsere Partei die Kraft hat, daß dort genügend Pazifisten sitzen, um eine andere friedensbezogene Außenpolitik ohne Militär machen zu können.“(...)

Auch wenn Fischer später zurückruderte, so kann ich seine Rolle im Kosovo-Konflikt im nachhinein nicht gutheißen. Zwar hatte er frühzeitig die Kehrtwende vollzogen und auf dem Bielefelder Parteitag der Grünen den Beschluß durchgesetzt, daß auch militärische Gewalt zu Erzwingen des Friedens notwendig sei. Er hatte aber die Koalitionsvereinbarung unterschrieben und versprochen, sich dafür einzusetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren. Mußte er all die schlimmen Fehler mitmachen, obwohl er als Außenminister die Gelegenheit hatte, massiv dagegenzuhalten? Es war unverzeihlich, den Amerikanern zu folgen und die UNO zur Seite zu Schieben. Wer Friedenspolitik machen will, muß das internationale Recht stärken. Er darf es nicht schwächen. Es war unverzeihlich, nicht darauf zu bestehen, daß Rußland eingebunden wird. Wie Gerhard Schröder Primakov behandelt hat, war völlig unangemessen. Erst als das Kind schon im Brunnen erkannten Schröder und Fischer, daß ohne Rußland keine europäische Friedensordnung möglich ist. (...)

Daß Soldaten zur Verteidigung ihres Landes und ihrer Familien ihr Leben einsetzen, braucht nicht begründet zu werden. (...) Warum aber sollen sie ihr Leben einsetzen, um als Schlichter oder Polizisten in einem Bürgerkrieg für Ruhe und Ordnung zu sorgen? (...) Die Zweifel führten zu der Strategie der Luftschläge. Man wollte vermeiden, daß Nato-Soldaten ihr Leben ließen. Der Luftkrieg minimierte zwar das Risiko für die eigenen Soldaten, steigerte aber das Risiko der Albaner und der Serben. Ein Menschenrechts-Interventionismus, der aus verständlichen Gründen das Leben der eigenen Soldaten schont, aber das Leben anderer Menschen um so mehr gefährdet, stößt auf Skepsis und Ablehnung. Kürzer formuliert, im Namen der Menschenrechte unschuldige Menschen umzubringen, ist auch dann nicht begründbar, wenn solch tragisches Geschehen als Kollateralschäden bezeichnet wird. Hier zeigt sich wieder einmal, daß im Krieg nichts so verräterisch ist wie die Sprache und daß erste, was auf der Strecke bleibt, die Wahrheit ist. Kann sich irgend jemand  vorstellen, das der Nato-Sprecher Jamie Shea, der allein mich schon deshalb erschreckte, weil er so oft heiter und locker wirkte, den Tod der eigenen Frau oder der eigenen Kinder als Kollateralschaden bezeichnen würde? (...)

Während des Kosovo-Krieges beging die Nato den 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages. Die atlantische Allianz hatte sich nur als militärisches Bündnis verstanden. Sie hielt sich auch immer für eine Wertegemeinschaft. Das kann man im Nato-Vertrag nachlesen. Hier bekennen sich die Partner zu den Grundwerten der Freiheit in der Demokratie und des Rechtes. Sie verpflichten sich,

·        In Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen zu handeln,

·        Jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichen Weg zu regeln,

·        Den Frieden, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht zu gefährden und

·        Sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung und Gewaltanwendung zu enthalten.

Im Kosovo-Krieg hat die Nato alle Verpflichtungen über Bord geworfen. Sie handelte gewaltsam ohne ein erforderliches Mandat der UNO. Die Militäreinsätze erfolgten unter Bruch des Völkerrechts und standen im Gegensatz zu den Verpflichtungen des Natovertrages.

Das moderne Kriegsvölkerrecht hat seine Grundlagen in den Genfer Abkommen von 1949 und den Zusatzprotokollen von 1977, die ebenfalls im wesentlichen gewohnheitsrechtlich von den Völkern anerkannt sind. Das erste Zusatzprotokoll bestimmt, das weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen Ziele von Angriffen seien dürfen. Gewaltanwendungen mit dem „hauptsächlichen Ziel“, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist verboten. Genau das aber war das Ziel der Bombardierungen der Nato. (...)

Rückblickend müssen wir fragen, wo wir hinkommen, wenn internationales Recht mißachtet wird und das Grundgesetz bis zur Verbiegung interpretiert wird, weil man sich, ob ausgesprochen oder nicht, auf ein archaisches Recht stützt: das Recht des Stärkeren. Niemand kann in einer Welt des Rechts zugleich Ankläger, Richter und Henker sein. Wer so handelt, darf sich nicht wundern, wenn das international Schule macht. Der Kosovo-Krieg war für die internationale Staatengemeinschaft ein Rückschritt.

Wenn man diese Politik fortsetzen wollte, dann wäre die erste Konsequenz, die Verteidigungsministerien wieder so zu benennen wie sie früher einmal geheißen haben: Kriegsministerium. Ein Verteidigungskrieg war der Kosovo-Krieg sicher nicht. Das Argument, wir müssen die Menschenrechte verteidigen, trägt allein deshalb schon nicht, weil man Menschenrechte nicht dadurch verteidigt, indem man unschuldige Menschen umbringt.

In seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ schreibt der ehemalige amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski: „Tatsache ist schlicht und einfach, daß Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern. Das ist kein gesunder Zustand, weder für Amerika noch für die europäischen Nationen.“