Januar 1999

 

Chiapas Aktuell - Teil 3

 

Neuer Bericht der irischen Mexico-Gruppe

 

Dies sind Erlebnisberichte von europäischen Menschenrechtsaktivisten, die sich zur Zeit in Chiapas aufhalten. Wir danken den irischen Menschenrechtsaktivisten für ihre Aufzeichnungen und natürlich den Übersetzern!

 

(Ende Juni 98). "Wie sehen Deine Hände aus?" Zum vierten Mal hielt ich sie zur Überprüfung hin. "Gut, heute sind es nur zwei Blasen", lachte ich. In Wahrheit waren meine Hände gar nicht das Problem, mein Rücken, die Arme und die Schultern waren da eine ganz andere Geschichte. Es war mein zweiter Tag in Diez de Abril. Gerade hatte ich ein sechsstündiges Arbeitspensum im Maisfeld abgearbeitet, und nun fühlte ich mich, als müsse ich sterben. Noch immer hatte ich ein flaues Gefühl vom Vortag im Magen. Vier Stunden nach meiner Ankunft im Dorf waren die beiden Friedenscamper, die ich abgelöst hatte, von Armee und Polizei festgenommen worden, als sie in den Büschen am Rand der Hauptstraße versteckt auf den Bus warteten. Im Dorf wird daraufhin mobilisiert. Es ist möglich, daß die Armee das als Vorwand benutzt, um wieder in Diez einzufallen. Alle sind sehr ruhig. Wir verbleibenden Friedenscamper werden zu einer vorbereiteten Stelle gebracht, wo wir sehen können, aber nicht gesehen werden. Nach zwei Stunden erhalten wir die Entwarnung. Die beiden Friedenscamper wurden nach einem Verhör freigelassen.

 

Die ausländerfeindliche Kampagne der Regierung ist jetzt in vollem Gange. Sie will keine Ausländer in Chiapas haben, wodurch die Anwesenheit internationaler Beobachter nur noch wichtiger wird. Sie will nicht, daß die Dinge an die Öffentlichkeit dringen oder daß sich jemand für das, was in Chiapas geschieht, interessiert. Die andauernde Bedrohung und Einschüchterung von Seiten der Armee ist nicht das einzige, was im Moment Sorge bereitet. El Nino hat in Chiapas verheerende Auswirkungen hinterlassen. Tausende Brände wüten in den Bergen, und der Rauch, der einen im Tal nicht weiter als 20 Meter blicken láßt, verdunkelt die Abendsonne. Das Gerücht geht um, daß die Armee einige der Feuer gelegt hat. Es fällt mir nicht schwer, das zu glauben. Die Regierung hat die Region zum Natur­katastrophengebiet erklärt. Aber wo ist Hilfe? Später am Abend besucht uns Ana. Wie viele andere im Dorf hat sie schlimmen Husten vom Rauch bekommen. Aber das hält sie nicht davon ab, mir das "Frauenlied" vorzusingen. Wegen der Trockenheit müssen die Dorfbewohner noch einmal Chillies, Bohnen und Kürbisse pflanzen, da die erste Ernte vertrocknet ist. Zwar hat es inzwischen geregnet, aber die Leute glauben, es war zu wenig und kam zu spät. Der Ungerechtigkeit und den Härten des Lebens setzt man im Dorf Humor entgegen.

 

Das Schweigen begann im März. Die Monate vergingen, und aus dem Hauptquartier der EZLN kam nicht ein einziges Wort, nicht vom Klandestinen Revolutionären Komitee und nicht von Marcos. Er stirbt an Malaria, munkelten die konterrevolutionären Drahtzieher, er wurde beim Waffenschmuggel in Guatemala gefaßt, ließ die Regierungspresse durchblicken. Das Schweigen bestimmte das politische Bild: Schweigen als taktisches Mittel der Stärke oder Schweigen als Zeichen der Schwäche? Unterdessen führten die Militärs eine Offensive nach der anderen gegen die zapatistische Basis durch. Dutzende Male drangen sie in zapatistische Gemeinden ein - in einem der aufsehenerregendsten Fälle am 11. April in Taniperla im Autonomen Verwaltungsbezirk Flores Magon, als etwa 1000 Militärs in Morgengrauen in das Dorf  einfielen, 9 Dorfbewohner verhafteten und 12 internationale Beobachter auswiesen. Am 13. April fielen dann um die 800 Militärs in das Dorf Diez de Abril ein, deportierten internationale Beobachter und nahmen einen Dorfbewohner fest. Am 1. Mai wurden in Amparo Aguatinta im Autonomen Verwaltungsbezirk Tierra y Libertad 53 Leute festgenommen und 8 Guatemalteken ausgewiesen, am 3. Juni gab es in Nicolas Ruiz 167 Festnahmen, und eine Woche später, am 10. Juni, griffen die Militärs, einige mit Bazookas bewaffnet, El Bosque im Autonomen Verwaltungsbezirk San Juan de la Libertad an, eröffneten das Feuer auf fliehende Dorfbewohner und töteten 9 von ihnen. Ein verhängnisvoller Tag war auch der 7. Juni, als sich die Conai-Vermittlungskommission unter Bischof Samuel Ruiz selbst auflöste und erklärte, sie könne in einem fast nicht existenten Friedensprozeß keine vernünftige Vermittlerrolle ausüben. Roberto Albores Guillen, der kriegerische Gouverneur von Chiapas, drohte aller fünf Minuten im staatlichen Rundfunk und Fernsehen mit repressiveren Maßnahmen gegen die 'Gesetzesbrecher' - 70.000 Militärs sind derzeit in Chiapas stationiert. Die UNO-Menschenrechtsbeauftragte Mary Robinson schlug in Anbetracht der kritischen Lage vor, ein UN-Menschen­rechtsbüro in Chiapas einzurichten. Der Druck stieg, und das Schweigen der Zapatista-Führung blieb bestehen, ein unruhiges, unsicheres, möglicherweise explosives Schweigen: die Menschen warteten voller Unbehagen. Und in Diez de Abril, unter den allgegenwärtigen tieffliegenden Hubschraubern am Himmel, machten sich die Dorfbewohner jeden Morgen mit ihren Hacken auf den Weg, um den harten, trockenen Boden ihrer Milpas (Maisfelder) zu lockern. Im Mai regnete es schließlich, Monate zu spät, und die Menschen mußten zum zweiten oder gar schon zum dritten Mal aussähen. Im Juni wuchs endlich der Mais, langsam, und noch immer gab es viele Zweifel, ob das eine erfolgreiche Ernte werden könnte. "Wenn du hungrig bist, kannst du keine Revolution machen", sagte Jose, EZLN-Kämpfer, und spielte mit dem Gedanken, in den Städten nach Arbeit zu suchen.  Die erste Gruppe Jugendlicher macht sich auf, um in den Urlaubsgebieten am Strand nach Arbeit zu suchen. Nachrichten kommen zurück von Männern, die mehr als 12 Stunden am Tag für weniger als 1 Dollar pro Stunde arbeiten. Aber das ist Anreiz genug; andere begannen, ihre Bündel zu packen. Im Juni waren bereits die meisten Männer und einige Frauen gerade von ein- oder zweimonatlichen Arbeitsperioden am Strand zurückgekehrt, oder sie waren auf dem Weg dorthin. Ironie pur: Luxushotels in den Urlauberorten der Reichen, gebaut von Zapatistas für miserable Löhne. Der 20jährige Palestino schaffte es, 2000 Pesos (ca. 400 DM) zu sparen, um Adelina, Mutter seines 6 Monate alten Kindes hier in Diez de Abril, heiraten zu können. Die 2000 Pesos sind eine Art Mitgift, die er als Voraussetzung für eine offizielle Heirat Adelinas Familie geben muß. Bis dahin leben sie 'in Sünde' zusammen, eine Tatsache, die von den Älteren im Dorf mißbilligt wird.  Nach einem Monat kommt Alfredo zurück ins Dorf und hat schlechte Nachrichten von Palestino. Dieser war, um das Ende seiner Arbeit zu feiern, in die Stadt zum Tanzen gegangen, betrank sich extrem und ... verlor all sein Geld, für das er einen Monat lang tagtäglich 12 Stunden gearbeitet hatte. Alfredo allerdings hat sein Geld nicht verloren; es handelt sich hier um denselben Alfredo, der erst vor wenigen Monaten von der Polizei schwer mißhandelt wurde und infolgedessen lange Zeit nicht arbeiten konnte. Er war gezwungen, auf sein bißchen hartverdientes Geld achtzugeben ... Was denkt er über den Strand-Erholungsort der Gringos? - Eigentlich hübsch, sagte er, aber er mochte ihn nicht, weil die Mexikaner wie die Sklaven für die Gringos arbeiten müssen. Er war glücklich, wieder in den Bergen bei seiner Familie zu sein. Drama und Tragödien im Dorf. Eines Nachts geht Antonio auf Hasenjagd. Er stößt auf zwei junge Räuber, die sich gerade an den Hühnern des Hühnerkollektivs zu schaffen gemacht haben. Er erwischt einen von ihnen, aber der andere entkommt. Der Junge wird in einen Raum gleich neben dem Friedenscamp gesperrt, der als Dorfgefängnis dient. Es stellt sich heraus, daß der andere, der entkommen konnte, kein anderer ist als Jaime, der Sohn von Dona Petra. Offenbar ist er zurückgekehrt, um seine kranke Mutter zu besuchen, aber aus Angst vor der Strafe der Dorfgemeinschaft für einige frühere Missetaten versteckte er sich in einem verlassenen Haus in den Bergen und wartete auf einen günstigen Moment für den Besuch. Er und sein Kumpel, ein Junge aus einem anderen Dorf, wurden aber hungrig und kamen also auf die Idee, die Hühner zu stehlen. Das ist eine ernste Angelegenheit für die Dorfgemeinschaft. Ein Richterkomitee wird bestimmt, und die Diskussion dauert Tag und Nacht an, wobei alle Betroffenen ihre Argumente hervorbringen. Die Besitzer der Hühner, Jaimes Familie, der gefangene Jugendliche, die Verantwortlichen des Dorfes und die Ältesten, sie alle reden lange und intensiv. Dona Maria, die bei der Tat Geschädigte, ist außer sich und fordert unter Tränen Gerechtigkeit - Prügelstrafe, Strafgeld, Arbeitsdienste ... Schließlich bekommt der Jugendliche zwei Tage Arbeit zum Nutzen der Dorfgemeinschaft. Dennoch grüßen ihn die Dorfbewohner nach wie vor, schütteln seine Hand und schwatzen mit ihm, während er arbeitet. Etwa in dieser Zeit war eine Gruppe farbiger US-Amerikaner im Dorf zu Besuch. Dabei war eine junge Frau aus Los Angeles, deren Bruder dort wegen Diebstahls im Gefängnis saß. Es ergab einen interessanten Kontrast, das Rechtssystem der Dorfgemeinschaft und die unmenschliche Verfahrensweise, die ihrem Bruder widerfahren war, gegenüberzustellen, der nun in einem Gefängnis saß, das praktisch als Ausbildungsstätte für weitere Straftaten diente ... Diese jüngste Delegation war es, die die Probleme und Widersprüche der internationalen Präsenz im Dorf an die Oberfläche brachte. Die Vertreter wurden zu einer Versammlung der Dorfbewohner geladen und gefragt, warum sie gekommen seien. Weil sie 'helfen' wollten, sagten sie. Ein Mann fragte, ob sie Geld geben könnten. Nein, sagten sie, auch wir sind in unserem Land arm und sind von einer regierungsunabhängigen Organisation finanziell untersttzt worden, um herzukommen. Das stiftet Aufregung. Wenn ihr uns helfen wollt, warum bleibt ihr dann nicht zu Hause und schickt uns dieses Geld, sagte ein Mann. Eine Frau fragte, warum kommt ihr alle hierher, und dann werdet ihr sowieso krank und fühlt euch nicht wohl dort im Großen Haus? Jemand anderes sagte, warum wollt ihr auf den Feldern arbeiten, wenn alles, was ihr dort tut, ist, eure Hände kaputtzumachen? Gebt uns einfach Geld, das war das dominierende Argument dieser Fraktion. Wir sind auf Einladung der EZLN gekommen, um die Menschenrechtsverletzungen von Armee und Polizei zu beobachten und bekanntzumachen. Wir sind aus Solidarität als Beobachter gekommen, um euer Leben kennenzulernen und Zeugen der Unterdrückung zu sein, um zu verhindern, was in Guatemala und in anderen Ländern geschah. Was geschah in Guatemala und in anderen Ländern? - fragten einige der Dorfbewohner. Sie töteten die Aufständischen und brannten ihre Dörfer nieder. Wir sind gekommen, um eine Stimme zu sein und Ideen des Widerstandes und des Kampfes auszutauschen. Und wenn wir Geld zusammenbekommen, sind wir auch damit bereit zu helfen. Es ist deutlich, daß ein Teil der Dorfbewohner von der internationalen Präsenz nicht angetan ist. 3 oder 4 Familien, nicht mehr, versichert Miquel, der den Erwachsenen im Dorf Lesen und Schreiben beibringt. Aber die Delegation aus den USA ist erschüttert. Einige von ihnen wollen am liebsten sofort wieder abfahren, andere wiederum sehen die Angelegenheit als gesunde Demokratie in der Versammlung an, wo sich zeigte, daß die Menschen offen über solche Sachen reden. Später kommen einige der Dorfbewohner zum Großen Haus und erklären ihre eigene Position, daß sie die internationale Präsenz zu schätzen wissen und, jawohl, es gibt Probleme, aber in der Versammlung nach der Ausweisung der  norwegischen Beobachter im April hat die Dorfgemeinschaft dafür gestimmt, das Friedenscamp zu behalten. Die Kirche ist fast fertig; ihr Bau ging beeindruckend schnell voran. Sie ist zu einem beeindruckenden Gebäude geworden und steht auf einem Hügel, mit Blick über das ganze Tal. "Es ist dieselbe Arbeit, wie Hotels am Strand zu bauen," sagt Constantino, "nur das wir es freiwillig tun, und sieh dir an, wie schnell wir die Arbeit erledigt haben ..." Und die Hotels? "Ach, die fallen in ein paar Jahren wieder zusammen!", lacht er ...Und das Schweigen der Zapatistas? Die Leute antworten mit Vorsicht - Wer weiß? Aber die meisten haben das Gefühl, das etwas Gutes dabei herauskommen wird. Und am 17. Juni wird das Schwiegen schließlich gebrochen ... durch ein 24seitiges Dokument von Marcos, das beschreibt, wie die Regierung den Friedensprozeß zunichte gemacht hat, und durch ein langes Kommunique vom Klandestinen Revolutionären Komitee mit der Fünften Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald, die u.a. die Forderung nach einem landesweiten Plebiszit über das Abkommen von San Andreas enthält. Einige hatten eine Art Guerilla-'Spektakel' als Ende des Schweigens erwartet. Guerillakrieg in Zeiten der Hungersnot? Statt dessen wollen die Zapatistas Vertreter in alle Teile des Landes entsenden, um über ihre Sache zu sprechen. Aus dem Schweigen erwächst eine neue politische Initiative von unten, der Kampf geht weiter und weitet sich aus.