März 1996
Pervomaiskoje
Wahlkampf
auf russisch
Wenn vom l. Mai die Rede war, so assoziierte man "Tag der
Arbeit", "Gewerkschaft", oder schlicht "Feiertag".
Bisher. Seit jedoch die geballte russische Militärmacht das in der Republik Dagestan gelegene Dorf Pervomaiskoje (zu deutsch: "erster Mai") dem Erdboden gleich gemacht hat, droht dieser Name zum Sinnbild für Militarismus,
Menschenverachtung, National-Chauvinismus, ja sogar für staatlich verordneten
Mord an Unschuldigen zu werden.
Nicht die Mitglieder des tschetschenischen Guerillakommandos
können unschuld für sich reklamieren. Das diese
Soldaten einen russischen Militärflughafen
angegriffen hatten, wäre innerhalb des
blutigen Konflikts, dem schon viele tschetschenische Städte und unzählige Menschen zum Opfer gefallen sind, wohl nur deshalb aufgefallen, weil sich
dieser in Dagestan, also außerhalb von Tschetschenien befindet. Gerade vor dem
Hintergrund des brutalen und kompromißlosen russischen
Vorgehens in Tschetschenien hätte sich
diese Aktion soweit noch mit derselben perversen militärischen Logik erklären
lassen, die in allen Kriegen immer als
Rechtfertigung für Verbrechen herhalten muß. Als die tschetschenischen Kämpfer jedoch in der Kleinstadt Kiseljar einfielen, Hunderte von unschuldigen Zivilisten als Geiseln nahmen und sich in einem
Krankenhaus verschanzten, war die Grenze
überschritten,
welche Soldaten von Terroristen trennt.
Unschuldig waren allein ihre Geiseln. Die Kinder, Kranken, Alten, Frauen
und Männer welche mehrere Tage unter Todesangst in der Gewalt der Tschetschenen verbringen mußten
und in Busse geladen unter Beschuß der russischen Armee in Richtung Tschetschenien verfrachtet wurden,
um schließlich hilf- und schutzlos im
dreitägigen Trommelfeuer nicht von ihren Kidnappern,
sondern von ihren erhofften Rettern in den Häusern von Pervomaiskoje dahingemetzelt zu werden.
Dieses Vorgehen der russischen Armee war von
Präsident Jelzin persönlich angeordnet worden, ja er hatte Premierminister Tschernomyrdin sogar ausdrücklich verboten, Verhandlungen
mit den tschetschenischen Kämpfern aufzunehmen, was im letzten Jahr eine ähnliche Geiselnahme eines anderen tschetschenischen Kommandos unter der Führung
von Schamil Bassajew in Budjonnowsk
unblutig beendet hatte.
Diesesmal sollte es offenbar anders werden, bot man eine wahre
Streitmacht von 80 Panzern, zahlreichen
Kampfhubschraubern, Artillerie und Granatwerfern, sowie 5000 Mann speziell ausgebildete Armee-Truppen auf, um die
etwa 150 "Banditen zu vernichten"
(Geheimpolizei-Sprecher Michailow). Damit es die
chaotisch operierenden Streitkräfte noch einfacher hatten, wurden zuerst alle freiwillig in der Hand der Geiselnehmer verbliebenen Frauen von General Michailow des Übertritts zum Feind (Desertion) beschuldigt (sie wollten nicht ohne ihre Männer aus Perwomaiskoje fliehen), als sich am
dritten Kampftag immer noch kein russischer Erfolg
eingestellt hatte, erklärte Michailow kurzerhand alle Geiseln für tot.
Obwohl sich derselbe Michailow mittlerweile rühmt,
viele Geiseln "gerettet" zu haben (wiederauferstanden?),
vermögen weder die strikte russische Militärzensur, noch die von ihr gezielt lancierten Desinformationen länger zu
verschleiern, daß das Bombardement von
Pervomaiskoje einerseits - was jedem zivilisierten Menschen schon im voraus
klar sein mußte - moralisch gesehen nichts anderes als ein abscheuliches und menschenverachtendes Verbrechen war, andererseits aber auch militärisch einen absoluten Fehlschlag bedeutet hat. Die
ohnehin hohen Verluste unter den russischen
Soldaten (die wahren Zahlen wird man wohl nie
erfahren) wurden durch die absolut chaotische und unkoordinierte
Einsatzführung noch unnötig vergrößert: dutzende Angehörige der Spezialeinheit "Alpha" mitsamt ihrem Kommandeur. Oberstleutnant Krestjannikow, fielen dem
Artilleriebeschuß der eigenen Kameraden zum Opfer.
Aber damit nicht genug: es gelang sogar mindestens 80 tschetschenischen
Kämpfern (russische Angaben), unter ihnen ihr Anführer Radujew, mitsamt einiger russischer Polizisten der
Sondereinheit "Omon" als Geiseln (!) zu entkommen.
Politisch gesehen gehen von Pervomaiskoje zwei
klare Botschaften aus: erstens an alle kleineren, ehemals
sowjetischen Staaten in der Region, die ihre
schlimmsten Befürchtungen bezüglich des Wiederauflebens von
Nationalchauvinismus und Imperialismus in Russland übertroffen sehen. Und
zweitens an die Staaten der westlichen Welt, die bisher wider besseren Wissens
versucht haben, Russland als ein demokratisches und rechtsstaatliches Land zu
verkaufen. Und einige, wie z.B. US-Verteidigungsminister Perry („Die
Vereinigten Staaten billigen das Vorgehen Russlands“) oder Bundesaußenminister
Kinkel („Die Diskussionen des russischen Parlaments über das Vorgehen in
Pervomaiskoje haben gezeigt, dass Russland ein demokratisches Land ist“)
versuchen das tatsächlich noch immer…
Doch das alles scheint die Verantwortlichen in Moskau nicht im geringsten zu stören. Ganz im Gegenteil: Präsident Jelzin und seine politische Umgebung, die er mittlerweile zugunsten von Scharfmachern, Altkadern und Betonköpfen konsequent von allen Reformpolitikern gesäubert hat, sind sehr zufrieden mit der Lage der Dinge. Das legt die Frage nahe, worauf es den hohen Herren im Kreml denn in Wirklichkeit mit ihrer Aktion angekommen ist. Tatsache ist, dass Jelzin sich bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen vor dem Massaker in Pervomaiskoje kaum eine realistische Chance auf eine Wiederwahl ausrechnen konnte. Zu sehr hatten die unsozialen und uneffektiven Wirtschaftsreformen, die Ausbreitung der russischen Mafia, die katastrophal verlorenen Parlamentswahlen und nicht zuletzt seine selbst bei offiziellen Anlässen mehrfach unüberseh- und hörbaren Alkoholprobleme sowie die dilettantisch herunter gespielten Herzattacken und Krankenhausaufenthalte Jelzins Ruf im Volk ruiniert. Und jetzt? Plötzlich hat Jelzin ein nationales, ablenkendes Thema, dass es ihm erlaubt, sich als entschlossener, durchsetzungsfähiger Mann zu verkaufen, der die „russische Sache“ entschieden vertritt. Zynisch gesagt: etwas besseres als Pervomaiskoje konnte Jelzin und seinen Präsidentschaftsambitionen gar nicht passieren. Und auch der ach so stolzen russischen Armee diente der chancenlos umzingelte Haufen Kämpfer als sehr willkommenes Symbol, um „den Feind“, der sie sooft blamiert und gedemütigt hatte, öffentlichkeitswiksam abzustrafen.
Wen wundert es da, wenn nun bekannt wird, dass der russische Geheimdienst schon 4 Tage im voraus von der geplanten Geiselnahme seitens der in Dagestan einsickernden tschetschenischen Kämpfer gewusst hat? Oder, dass die russische Führung treuherzig behauptet, den Grenzübertritt des mehrere Hundert Mann starken und bis an die Zähne bewaffneten Tschetschenenkommandos hätten die zahllosen russischen Grenzsoldaten „nicht bemerkt“, oder aber, die im Kriegszustand befindlichen Truppen hätten die Tschetschenen trotz schärfster Befehle gegen ein paar US-Dollar freiwillig passieren lassen? Ein Schelm wer böses dabei denkt….
Robbi