März 1996

 

 

Die Kapitalisten verdanken dem Sozialstaat ihr Gedeihen

 

Interview mit dem langjährigen SPD-Vorstandsmitglied Peter von Oertzen

 

?:Alle reden über leere Kassen und angeblich massenhaften Sozialmißbrauch. Ruinieren - um mit Helmut Kohl zu sprechen -die "Trittbrettfahrer" den Sozialstaat?

P.V.O.: Nein. diese Darstellung ist perfide. Weil durch Steuerhinterziehung gut und sehr gut Verdienender ein vielfaches an öffentlichen Mitteln verloren geht. Man denke nur daran, daß ein Immobilienhai wie Herr Schneider Milliarden auf Kosten der Volkswirtschaft verschleudert hat. Dagegen handelt es sich beim sogenannten Sozialmißbrauch um Peanuts. Zweifellos gibt es Reformbedarf, was die Finanzierung des Sozialstaates oder den Grad der Gerechtigkeit betrifft. Deshalb muß man aber das Prinzip der sozialen Sicherung nicht abschaffen.

?: Nun dominieren derzeit Arbeitgeber-Positionen, der Sozialstaat wird gern als Geschenk dargestellt...

P.V.O.: Das ist einfach Unsinn. Der Sozialstaat war die Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise 1929/1938 sowie auf die Krise nach Ende des zweiten Wettkrieges. Er wurde von den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, aber auch von christlich-sozialen Kräften durchgesetzt. Der Westen verdankt das Ausbleiben schwerer Erschütterungen seit 1945 vor allem dem Sozialstaat. Und die Kapitalisten verdanken ihm ihr Gedeihen.

?: Die verfassungsrechtliche Verankerung des Sozialstaatsprinzips spielt für sie keine Rolle?

P.v.O.: Der Kapitalismus ist eine Wirtschaftsordnung, die - als Funktionsprinzip - vom Egoismus, von der Konkurrenz lebt. Wenn Unternehmerinteressen mit Moral oder Verfassung zusammenstoßen, wird gegen letztere entschieden. Ein Kapitalist, der anfängt moralisch zu sein, gerät er im Machtkampf unter die Räder. Der Kapitalismus ist eben keine Wohltätigkeitsveranstaltung.

?: Die Debatte um den Sozialstaat hat sich vor allem seit Anfang der neunziger Jahre verschärft. Wie erklären Sie den Zeitpunkt?

P.v.O.: Der Zusammenbruch des sogenannten realen Sozialismus hat den Kapitalismus zur weltbeherrschenden Wirtschaftsweise gemacht. Hinzu kommt die technologische Entwicklung, wodurch sich die internationale Konkurrenz drastisch zugespitzt hat. Und damit werden natürlich auch die strukturellen Probleme des Kapitalismus enorm verschärft. Man glaubt, durch Senkung der Unternehmenssteuern und stärkere Belastung der unteren Einkommen die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft verbessern zu können.

?: Zu Unrecht?

P.v.O.: Natürlich ist eine Wirtschaft mit ausgebautem Sozialsystem gegenüber aufstrebenden kapitalistischen Ökonomien, etwa in Fernost, in gewissem Nachteil. Doch die Wechselkurse belasten die deutsche Wirtschaft viel mehr als die Kosten des Sozialstaates. Bei einer Abwertung der D-Mark gegenüber dem Dollar um 10 würde sich die Konkurrenzsituation der deutschen Wirtschaft schlagartig verbessern - vielmehr, als dies alle Sozialkürzungen tun könnten.

?: Der Anteil des Sozialbudgets am Bruttosozialprodukt lag 1975 bei 33,9% für 1993 werden 34% angegeben. Anders gesagt: die Sozialquote blieb fast konstant. Warum sind die Kassen heute leer?

P.v.O.: Die Verschlechterung der Konjunktur hat die Soziallasten stark steigen lassen: mehr Arbeitslosen und den entsprechenden Kosten stehen weniger Steuereinnahmen aus den sinkenden Privateinkommen gegenüber. Was nicht heißt, daß die Volkswirtschaft insgesamt weniger reich wäre, aber die Verteilung ändert sich. Der Unternehmeranteil am Volkseinkommen ist seit Gründung der Bundesrepublik ständig gestiegen, der Arbeitnehmeranteil gesunken. Der Staat kommt an große Teile der großen Privateinkommen überhaupt nicht mehr heran: Besserverdienende und Unternehmen haben perfekte Techniken entwickelt, sich Steuerverpflichtungen zu entziehen. Schätzungen zufolge werden dem Staat jährlich 50 - 100 Milliarden DM vorenthalten. Die ganze Sozialdebatte wäre unnötig, wenn gesetzliche Steuern auch kassiert würden.

?: Ihre SPD steht bei alledem nach wie vor ohne Konzept da...

P.v.O.: Man kann der SPD schlecht vorwerfen, daß sie nicht zum Frontalangriff auf den Kapitalismus bläst - das tut unter den gegebenen Umständen ja nicht mal die PDS. Aber es wäre wichtig, wenn die SPD klar machte, daß sie sich an den Realitäten einer Wirtschaftsordnung orientiert, die sie leider im Moment nicht ändern kann. Auch nicht mit Parlamentsmehrheiten. Ministern etc.. Aber die Partei bedient sich einer Gesellschaftsperspektive nicht mehr, und so kann sie auch kein überzeugendes Gesamtkonzept auf die Beine stellen. Dabei könnte der sozialstaatliche Ausbau der EU ein realistisches Ziel sein. Dies könnte einer ungehemmten Auslieferung der europäischen Völker an die Dynamik des Welt-Kapitalismus gewisse Riegel vorschieben.

?: Es häufen sich Warnungen vor sozialen Unruhen. Was erwarten Sie?

P.v.O.: Wenn die Unternehmer sich Kompromissen verschließen, wird es harte Tarifkämpfe geben, die durchaus den Charakter schwerer sozialer Erschütterungen annehmen können.