?:Alle reden über leere Kassen und angeblich massenhaften
Sozialmißbrauch. Ruinieren - um mit Helmut Kohl zu sprechen -die "Trittbrettfahrer"
den Sozialstaat?
P.V.O.: Nein. diese Darstellung ist perfide. Weil durch Steuerhinterziehung gut und sehr gut Verdienender ein vielfaches an öffentlichen Mitteln verloren geht. Man denke nur daran, daß ein Immobilienhai wie Herr Schneider Milliarden auf Kosten der Volkswirtschaft verschleudert hat. Dagegen handelt es
sich beim sogenannten Sozialmißbrauch um Peanuts.
Zweifellos gibt es Reformbedarf, was
die Finanzierung des Sozialstaates oder den Grad der Gerechtigkeit betrifft. Deshalb muß man aber das Prinzip der sozialen Sicherung nicht abschaffen.
?: Nun dominieren derzeit Arbeitgeber-Positionen, der Sozialstaat wird
gern als Geschenk dargestellt...
P.V.O.: Das ist einfach Unsinn. Der Sozialstaat war die Reaktion auf die
Weltwirtschaftskrise 1929/1938 sowie auf die Krise nach Ende des zweiten Wettkrieges. Er wurde von den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, aber auch von christlich-sozialen Kräften
durchgesetzt. Der Westen verdankt das
Ausbleiben schwerer Erschütterungen seit 1945
vor allem dem Sozialstaat. Und die
Kapitalisten verdanken ihm ihr Gedeihen.
?: Die verfassungsrechtliche Verankerung des
Sozialstaatsprinzips spielt für sie keine
Rolle?
P.v.O.: Der Kapitalismus ist eine Wirtschaftsordnung,
die - als Funktionsprinzip - vom Egoismus, von der
Konkurrenz lebt. Wenn Unternehmerinteressen
mit Moral oder Verfassung zusammenstoßen, wird gegen letztere entschieden. Ein Kapitalist, der anfängt moralisch zu sein, gerät er im Machtkampf unter die Räder. Der Kapitalismus ist eben keine
Wohltätigkeitsveranstaltung.
?: Die Debatte um den Sozialstaat hat sich vor
allem seit Anfang der neunziger Jahre verschärft. Wie erklären Sie
den Zeitpunkt?
P.v.O.: Der Zusammenbruch des sogenannten realen Sozialismus hat den
Kapitalismus zur weltbeherrschenden Wirtschaftsweise gemacht. Hinzu kommt die technologische Entwicklung, wodurch sich die internationale Konkurrenz drastisch zugespitzt hat. Und damit werden natürlich auch die
strukturellen Probleme des Kapitalismus enorm
verschärft. Man glaubt, durch Senkung der
Unternehmenssteuern und stärkere Belastung der unteren Einkommen die
Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft
verbessern zu können.
?: Zu Unrecht?
P.v.O.: Natürlich ist eine Wirtschaft mit ausgebautem
Sozialsystem gegenüber aufstrebenden kapitalistischen Ökonomien, etwa in Fernost, in gewissem Nachteil. Doch die Wechselkurse belasten die deutsche Wirtschaft viel
mehr als die Kosten des Sozialstaates. Bei einer
Abwertung der D-Mark gegenüber dem Dollar
um 10 würde sich die Konkurrenzsituation der deutschen Wirtschaft schlagartig verbessern - vielmehr, als
dies alle Sozialkürzungen tun könnten.
?: Der Anteil des Sozialbudgets am Bruttosozialprodukt lag 1975 bei
33,9% für 1993 werden 34% angegeben. Anders gesagt: die
Sozialquote blieb fast konstant. Warum sind die Kassen heute leer?
P.v.O.: Die Verschlechterung der Konjunktur hat die Soziallasten stark
steigen lassen: mehr Arbeitslosen und den
entsprechenden Kosten stehen weniger
Steuereinnahmen aus den sinkenden
Privateinkommen gegenüber. Was nicht heißt, daß die Volkswirtschaft insgesamt
weniger reich wäre, aber die Verteilung ändert
sich. Der Unternehmeranteil am Volkseinkommen ist seit Gründung der Bundesrepublik ständig gestiegen, der
Arbeitnehmeranteil gesunken. Der Staat kommt an große
Teile der großen Privateinkommen überhaupt
nicht mehr heran: Besserverdienende und Unternehmen haben perfekte Techniken entwickelt, sich Steuerverpflichtungen zu entziehen. Schätzungen zufolge
werden dem Staat jährlich 50 - 100 Milliarden DM
vorenthalten. Die ganze Sozialdebatte wäre
unnötig, wenn gesetzliche Steuern auch
kassiert würden.
?: Ihre SPD steht bei alledem nach wie vor ohne
Konzept da...
P.v.O.: Man kann der SPD schlecht vorwerfen, daß sie nicht zum Frontalangriff
auf den Kapitalismus bläst - das tut unter den gegebenen
Umständen ja nicht mal die PDS. Aber es wäre wichtig, wenn
die SPD klar machte, daß sie sich an den
Realitäten einer Wirtschaftsordnung
orientiert, die sie leider im Moment nicht ändern kann.
Auch nicht mit Parlamentsmehrheiten.
Ministern etc.. Aber die Partei bedient sich
einer Gesellschaftsperspektive nicht mehr, und so kann sie auch kein überzeugendes Gesamtkonzept auf die
Beine stellen. Dabei könnte der sozialstaatliche
Ausbau der EU ein realistisches Ziel sein.
Dies könnte einer ungehemmten Auslieferung der
europäischen Völker an die Dynamik des Welt-Kapitalismus gewisse Riegel
vorschieben.
?: Es häufen sich Warnungen vor sozialen Unruhen. Was erwarten Sie?
P.v.O.: Wenn die Unternehmer sich Kompromissen verschließen, wird es
harte Tarifkämpfe geben, die durchaus den Charakter schwerer sozialer Erschütterungen annehmen können.