Oktober 1995
KRUZI NOCHAMOAL!!!
Deutschland im Hochsommer. Die Nation war im
Urlaub. Und in just diesem Moment machten sich offenbar
hinterhältige Schurken daran, das Gemeinwesen zu erschüttern. Bundeskanzler Kohl (CDU)beschwörte eine "Gefahr für Werte der abendländischen Kultur", Peter Gauweiler (CSU) sah "juristische
Kaziken" das Volk unterdrücken, CSU-Chef Waigel erachtete
das Grundgesetz als verletzt, das Landeskomitee der Katholiken in Bayern fühlte sich an die Nazi-Zeit erinnert, CDU-Generalsekretär Hintze rief die Täter verzweifelt zur Selbstbesinnung auf
und der bayerische Ministerpräsident Stoiber (CSU) beschuldigte die Übeltäter der Intoleranz und droht beinahe unverholen mit Ungehorsam. Andere mutige Bayernrecken
erklärten sich gar spontan bereit, den
"Kriminellen" mit Prügel Einhalt zu gebieten. Was war passiert?
Der l .Senat des Bundesverfassungsgerichtes hatte einen Passus des
bayerischen Schulgesetztes für
verfassungswidrig erklärt, wonach in jedem bayerischen Klassenzimmer ein
Christuskreuz hängen muß. Begründet wird diese
Entscheidung mit der religiösen Neutralität des
Staates einerseits, und dem Grundrecht auf Glaubensfreiheit andererseits.
Obwohl schon in der Präambel des Grundgesetzes auf "Gott"
verwiesen wird, spiegelt sich darin nur das moralisch - ethische Verantwortungsbewußtsein der Verfassungsmütter und -väter
wieder. Keinesfalls jedoch bekennt sich der Staat dadurch zu einem bestimmten
Gott, sei es nun ein christlicher, Allah oder
irgendein anderer. Ferner räumt das Grundrecht auf Glaubensfreiheit nicht nur
jedermann einen Anspruch auf öffentliches Bekenntnis zur eigenen Religion ein,
sondern - wie das Verfassungsgericht bereits 1973 feststellte -auch "das
Freiheitsrecht, von staatlichen Zwängen in
weltanschaulich-religiösen Fragen unbehelligt zu bleiben". Im Gegensatz zu Bundeskanzler Kohl und Edmund Stoiber wäre es in diesem Zusammenhang für das Verfassungsgericht "eine dem Selbstverständnis des
Christentums zuwiderlaufende Profanisierung des Kreuzes, wenn man es als bloßen Ausdruck abendländischer Tradition oder als kultisches Zeichen ohne spezifischen Glaubensbezugansehen wollte". Das
Christuskreuz habe vielmehr "appellativen Charakter" und weise
"die von ihm symbolisierten
Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig aus". Wenn gläubige Mitglieder nichtchristlicher Religionen aber durch
einen gesetzlichen Kreuzesbefehl gezwungen
werden, ihre Schulzeit unter einem
solchen "Vorbild" zu verbringen, mit dem sie
nichts anfangen können, oder das sie sogar ablehnen, werden sie zweifelsohne einem staatlichen Zwang ausgesetzt. Zumal
wenn die
Anbringung von Kreuzen, wie in Bayern, auch in jedem Klassenzimmer der staatlichen Schulen zwingend
vorgeschrieben ist und der Betroffene aufgrund der Schulpflicht gar keine Möglichkeit hat, diesem
Religionszwang zu entgehen.
Die Entscheidung ist also ebenso unspektakulär wie gut begründet. Verwunderlich ist eher, warum in Bayern, wo
der amtierende CSU-Kulturminister Johannes Baptist Zehetmair 1987 das Schulgebet
wiedereinführte, das Kapitel "Zeugung"
aus dem Sexualkunde-Unterricht gestrichen hat und Lehrern immernoch
"religiöse Orientierungstage" verordnet, bis heute niemand gegen die frömmlerische Bevormundung aufbegehrt hat. In jedem Fall ist Unionspolitikern plötzlich kein
Niveau mehr zu niedrig, um das Ansehen des
Bundesverfassungsgerichts zu beschädigen und dessen hohe gesellschaftliche
Akzeptanz zu gefährden. Offenbar paßte die Entscheidung den
Unionschristen einfach zu gut ins Konzept, als daß man den jahrzehntelangen Respekt gegenüber der verfassungsgemäß höchsten Instanz des Staates hätte aufrechterhalten wollen.
Da witterte erstens die skandalumwitterte CSU die
Chance, sich den Bayern als wahrer Verfechter der "bayerischen
Lebensart" andienen zu können. Nicht
Umsonst läßt das lächerlich schrille Klagen aus Stoibers Lager entlarvende
Parallelen zur sogenannten "Biergarten-Revolution"
erkennen. Das Kruzifix gehört im Freistaat
halt ebenso zur Folklore wie Dirndl oder
Weißwurst, und hätte sich das höchste
Gericht an jenen vergangen, das Lamento wäre
wahrscheinlich genauso groß gewesen.
Zweitens versuchte man durch die übereifrig zur Schau getragene
Kreuzesnähe auf äußerst
öffentlichkeitswirksame Weise die Daseinsberechtigung des arg
verblaßten großen "C" im
Parteinamen nachzuweisen. Kanzler Kohl, in seiner
Hybris stets krampfhaft um einen staatstragenden Ton bemüht, dozierte, die "freiheitliche Grundordnung" sei "wesentlich auf christliche Grundwerte aufgebaut" und: "auf dieses Fundament wollen wir nicht verzichten". Angesichts steigender Arbeitslosenzahlen, grober Einschnitte in den
Sozialstaat und Zunahme der Bedürftigen bei
gleichzeitiger Klientelpolitik der Regierungsparteien entlarven sich diese verschwiemelten Worthüllen als bigottes
Ablenkungsmanöver. Und welchen Stellenwert die
„freiheitliche Grundordnung" in CDU-Kreisen wirklich
einnimmt, demonstrierte der Kanzlerfreund und Medienzar Leo Kirch: begleitet
vom Beifall der CDU/CSU setzte der Initiator
von verkappten Kanzlerwerbesendungen ("Zur Sache, Kanzler") die geballte Macht seiner Springer Aktien
daran, den Chefredakteur der Tageszeitung "Die
Welt" abzusetzen, da dieser es zugelassen hatte -
Pressefreiheit hin oder her -, dass ein
die, Gerichtsentscheidung lobender Kommentar abgedruckt worden war.
Währenddessen wurde in Kirch's Haussender SAT. l
auf den Schulbänken bayerischer Klassenzimmer im "Schulmädchenreport"
wie gewohnt gerammelt und gestöhnt - ohne Kruzifix an der Wand...
Die Kruzifix-Entscheidung des l. Senats bot den
Regierungsparteien drittens aber auch den willkommenen
Ansatzpunkt, um das Bundesverfassungsgericht für die ihrer Ansicht nach in
letzter Zeit oftmals „zu linken“
Entscheidungen abzustrafen und öffentlich an den Pranger zu stellen. Ob es der
Spruch über das Tucholskyzitat „Soldaten sind Mörder“, die
Haschisch-Entscheidung oder das Urteil über die Straflosigkeit von
Sitzblockaden waren, immer mussten sich die Christdemokraten zähneknirschend
der Autorität der Karlsruher Richter beugen. Nun wurde eine vergleichsweise
harmlose Entscheidung medienwirksam so hochgekocht, dass weite Teile der
Christenschaft sich aufgrund gezielter Desinformation empörten und so den
langgehegten Rachegelüsten mancher Politiker einen Vorwand lieferten.
Dementsprechend beförderte sich so mancher Hobbyjurist flugs zum
selbsternannten „Verfassungsexperten“ und fühlte sich dazu berufen, die Medien
mit den mannigfaltigsten „Reformvorschlägen“ bezüglich des Verfassungsgerichts
zu überschwemmen. CSU-Chef Waigel schwebt z.B. eine „Kompetenzbeschneidung“ für
das höchste Gericht vor, das laut Verfassung noch über Parlament und
Bundesregierung steht, und selbst der CDU-Rechtsexperte Horst Eylmann entblödet
sich nicht zu fordern, das Bundesverfassungsgericht dürfe „wichtige
Entscheidungen“ nur noch mit Zweidrittelmehrheit treffen.
Angesichts dieses Aufruhrs fragt man sich, ob es die Unionsparteien,
selbstverliebt durch ihre beinahe dreizehnjährige Regierungsmacht, verlernt
haben, sich den Prinzipien der Verfassung unseres Staates unterzuordnen und
auch aus ihrer Sicht missliebige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
zu akzeptieren. Die wohlfeile Rechtfertigung, die „große christliche Mehrheit“
in der Deutschland lehne die Entscheidung ab, kann nicht verfangen, denn
Grundrechtsschutz ist stets Minderheitenschutz. Mitnichten das
Bundesverfassungsgericht ist also intolerant, wie Edmund Stoiber behauptet. Es
hat lediglich den staatlichen Zwang des Kreuzes im Klassenzimmer beseitigt und
den betroffenen Lehrern, Schülern und Eltern damit das Recht zugestanden,
gemeinsam zu entscheiden, ob alle in der Klasse ein Kreuz haben möchten oder
nicht. Intolerant sind vielmehr
frömmelnde Politiker, denen die Eigenverantwortung ihrer Bürger ein Dorn
im Auge ist, weswegen sie die Gerichtsentscheidung verbal bis zur
Unkenntlichkeit verzerren und den Anschein erwecken, als sei Jesus Christus
persönlich verboten worden. Ihnen kann man nur empfehlen, die Prinzipien ihres
auch noch so ausgeprägten Christenglaubens nicht nur an dekorativen Symbolen
festzumachen, sondern diesen stattdessen durch christliche Taten zu beweisen.
Dazu böte den angeblich besonders nächstenliebenden Damen und Herren in Bayern
nicht nur das Thema Asyl- und Ausländerpolitik noch viel Spielraum. Bisher
ertönt aus dieser Richtung – außer kleinkarierter Parteitaktik und eitler
Selbstdarstellung – aber leider nur: viel Lärm um nichts….
Robbi