September 1994
Leserbrief
zur Diskussion über
Mauerschützen in Rot Dorn Nr.12
In der letzten Ausgabe dokumentierten wir einen Leserbrief zum Thema Mauerschützen,
den wir kommentierten. Die Diskussion ist nun in Gang gekommen. Wir erhielten
wieder einen Leserbrief zu diesem Thema. Schreibt auch Ihr Eure Meinung. Diskussionsbedarf
gibt es nach diesem Leserbrief bestimmt. Jeder Leserbrief wird garantiert abgedruckt!
Doch nun ist Arno Mann dran, dessen Brief wir leider ein wenig kürzen mußten.
An dem Inhalt ist aber nichts entstellt und er ist auch jetzt noch lang genug.
Und noch etwas. Ihr könnt uns ruhig Duzen.
Hallo "RotDorn" - Redaktion!
Ja, mir stehen die Haare zu Berge! Wißt Dir auch, warum? Weil junge Leute,
Jung"sozialisten" einer Redaktion über Soldaten schreiben, die
zum Zeitpunkt ihres Handelns wahrscheinlich etwa im gleichen Alter waren und
die Ihr jetzt zumindest moralisch und politisch verurteilen möchtet. Aber
dann gehören sie nicht hinter Gitter. Doch das wäre Euch auch zu wenig,
ein bißchen sollen die Gesetze eines anderen Staates gegenüber ehemaligen
Soldaten des nicht mehr existierenden anderen deutschen Staates in Anwendung
gebracht werden. Inzwischen hat sich ja im Rechtsstaat BRD ein Gericht gefunden,
das den Einigungsvertrag als Makulatur betrachtet und befunden hat, dass Grenzsoldaten
zu verurteilen sind, auch wenn das besagtem Vertrag widerspricht, wonach nur
jemand im Nachhinein zur Rechenschaft gezogen werden darf, wenn er gegen das
Gesetz der DDR verstoßen hat.
Zum Glück der Siegerjustiz gab es in Berlin eine Frau Limbach, die als
SPD-Mitglied und Justizsenatorin ganze Arbeit geleistet hat und die volle Anerkennung
durch die Berufung in das Bundesverfassungsgericht
erfuhr. Auf Ihr Betreiben wurde die Verfolgungs- und Verurteilungsmaschinerie
in Gang gesetzt.
Es gab keine "Mauerschützen", sondern Grenzsoldaten, die im Einzelfall
von der Waffe Gebrauch machen mußten, um ihrer Verantwortung an der Staatsgrenze
gerecht zu werden. (...)
Der Begriff "Mauerschütze" ist eine Diskriminierung Tausender
Grenzsoldaten, die in 40 Jahren ehrenvoll ihren Dienst an der Staatsgrenze getan
haben, und nur im Einzelfall kamen sie in eine Situation, die von ihnen nicht
gewollt und nicht gewünscht war, die sich aber aus dem Kalten Krieg ergab,
und über diese Soldaten will sich jetzt der Siegerstaat dafür rächen,
daß er über 40 Jahre daran gehindert wurde, seine Macht auf ganz
Deutschland auszudehnen, deutschlandweit Profit zu machen. Der Begriff "Mauerschützen"
dient der Kriminalisierung des Grenzsystem der DDR. Unabhängig vom Kalten
Krieg hat jeder souveräne Staat das Recht, seine Grenzen so zu sichern,
wie es die Lage, insbesondere im Verhältnis zu dem ihm gegenüberliegenden
Staat bzw. Territorium, erfordert. Die Art und Weise der Sicherung der Staatsgrenze
der DDR erfolgte in erster Linie aus der Notwendigkeit, an der Trennungslinie
zwischen NATO und Warschauer Vertrag einen sicheren Schutz gegen die revanchistischen
Absichten des Imperialismus zu haben. Zugleich wurde ab 1961 die weitere Ausplünderung
der DDR von Westberlin aus unterbunden - und auch der Tätigkeit des "Ostbüros
der SPD" wurde ein Riegel vorgeschoben.
Wenn dann in den Folgejahren Bürger der DDR versuchten, illegal die Grenze
zu durchbrechen, so waren sie sich ihres Tuns voll bewußt, und da bekannt
war, wie die Staatsgrenze gesichert wird, mußten sie auch mit den möglichen
Folgen rechnen, die sie wissentlich und vorsätzlich in Kauf nahmen. Daß
die Soldaten an der Grenze ihren Dienst taten, war keine freiwillige Angelegenheit,
sondern durch das Wehrpflichtgesetz geregelt, und in welchen Fällen von
der Waffe Gebrauch zu machen war, dafür gab es militärische Bestimmungen.
(...)
Sie nennen sich ja Jung"sozialisten", haben sie sich schon einmal
Gedanken darüber gemacht, was das Wort Sozialist beinhaltet? Mit dem einstigen
sozialistischen Staat DDR wollen Sie ja sicher nicht in einem Atemzug genannt
werden. Sie sind die künftigen oder schon Sozialdemokraten. Warum also
noch junge Sozialisten? Vom Sozialismus als Ziel ist die Sozialdemokratie ja
wohl soweit entfernt wie die Erde von der Sonne. Moralische und politische Grundsätze
verkümmern zum Hohn, da die SPD weiterhin die Sieger als Steigbügelhalter
bedient, damit diese ihre politische Abrechnung mit Grenzsoldaten, Offizieren,
Generälen, Richtern, Staatsanwälten ...der DDR mit juristischen Mitteln
betreiben kann. (...)
In der Hoffnung, daß Sie Ihre Position (...), die objektiv der Zementierung
der Herrschaft der Monopole und der Banken dient, noch einmal überdenken
und ihre Haltung zur Sozialdemokratie überprüfen, verbleibe ich mit
freundlichen Grüßen
Arno Mann
Der Kommentar:
Hallo Herr Mann!
Ihr Brief zeugt in erster Linie von Unkenntnis, was bei diesen Prozessen abläuft.
Der Rechtsgrundsatz 'nulla poena sine lege' -keine Strafe ohne Gesetz - ist
über Jahrhunderte entwickelt worden und fester Bestandteil des deutschen
Rechtssystems. "Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit
gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde" lautet §1des
bundesdeutschen Strafgesetzbuches, und auch der Einigungsvertrag Schreibt dieses
Prinzip fest (z.B. in Anl. IKap. n). Im Gegensatz zur DDR ist in der Bundesrepublik
kein Gesetz Makulatur, auch nicht der Einigungsvertrag. Ein bundesdeutscher
Richter muß die einschlägigen Gesetze anwenden, wenn sie nicht gegen
das Grundgesetz verstoßen, denn: "... die Rechtsprechung (ist) an
Gesetz und Recht gebunden" (Art. 20 III Grundgesetz) und nicht an Partei
und Staatssicherheit. Die Mauerschützen stehen vor Gericht, weil §112
DDR-StGB vorsätzliche Tötung unter Strafe stellt. Wenn darüber
hinaus die Verfassung der DDR die Freiheit und Würde der Persönlichkeit
für unantastbar erklärt (Art. 30 I) und allen staatlichen Organen
ihren Schutz gebietet (Art. 19 II), so ist schuldfähigen Menschen zuzumuten,
dass sie dagegen eklatant verstoßende Befehle und Dienstvorschriften als
Unrecht erkennen.Aber auch
politisch-moralisch sind die Schüsse an der Mauer zu verurteilen. Die Mauer
war kein antifaschistischer Schutzwall, sondern ein nach innen gerichtetes Unterdrückungsinstrument.
,Es manifestierte die Expansion des imperialistischen Sowjetreiches nach Westen.
Die Millionen, die vor dem 13. August 1961 die DDR verließen, sind nicht
von DDR-Revanchisten verschleppt worden. Sie haben eingeleitet, was 1989/90
durch die nächste Generation fortgesetzt wurde: das Ende des stalinistischen
Systems in der DDR. Insofern können sich alle, die mitgeholfen haben, den
Stalinismus zu stürzen, als Sieger fühlen. Die "Grenzsoldaten"
indes haben mitgeholfen, die Totgeburt des stalinistischen Systems gegen den
Willen des Volkes künstlich am Leben zu erhalten, jede Veränderung
innerhalb der DDR (vielleicht sogar zu einer sozialistischen Gesellschaft) unmöglich
zu machen.
Sind diejenigen, die jetzt vor Gericht stehen, ihrer Verantwortung gerecht geworden? Nein! Hätten sie Verantwortung gehabt, hätten sie diesen Dienst nicht angetreten oder wenigstens niemanden erschossen. Was ist das für eine Verantwortung, wenn man gezielte Feuerstöße auf unbewaffnete Menschen abgibt oder bereits festgenommene oder verletzte Flüchtlinge nachträglich ermordet. In einer Diktatur verantwortlich handeln, das heißt, sie zu bekämpfen. Soviel Verantwortung hatte ich, bis ich 19 Jahre, alt war, leider auch nicht. Und die Opfer? Sie waren "sich ihres Tuns voll bewußt", haben die Folgen "wissentlich und vorsätzlich in Kauf' genommen? Ja, hat denn der Zynismus noch ein Ende? Nicht nur daß diejenigen selbst schuld waren, die beim Versuch, sich ihre in der DDR-Verfassung verbrieften Rechte zu nehmen, erschossen wurden, sie handelten auch noch vorsätzlich, wollten also die Folgen - ihren Tod - regelrecht. Jede gelungene Flucht ein mißglückter Selbstmord? Hier stehen mir die Haare ebenfalls zu Berge! Daß diese menschenverachtende Ideologie noch immer in einigen Betonköpfen herumspukt, zeigt, daß manche wieder nichts aus der Geschichte gelernt haben.
Keine Sorge, die Haltung der Pankower Jusos zur Sozialdemokratie und zum Sozialismusbegriff ist das Ergebnis eines jahrelangen Diskussionsprozesses; der Name Jungsozialisten ist sehr bewußt gewählt. Die Frage 'Was ist Sozialismus?' ist unter Sozialisten aller Couleur wohl heftig umstritten. Eines ist jedoch weithin Konsens: Die stalinistische Diktatur in der DDR hatte mit Sozialismus unserer Vorstellung nicht im Entferntesten etwas zu tun. Einen sozialistischen Staat hat es in der Menschheitsgeschichte bislang nicht gegeben. Sozialismus - wie er auch immer konkret aussehen mag bedeutet vor allem die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung, vom kapitalistischen Wirtschaften und von der ökonomischen Ungleichstellung. Mindestens gehören Freiheit und Freizügigkeit, Menschenwürde und Bürgerrechte, Demokratie und Mitbestimmung unabdingbar zum Sozialismus. Und noch etwas: Auch wenn sich die SPD vom Ziel des Sozialismus verabschiedet zu haben scheint, so ist die Idee einer demokratischen sozialistischen Gesellschaft doch die Erfindung der 130 Jahre alten Sozialdemokratie und steht auch heute im Grundsatzprogramm der SPD. Wir Jungsozialisten sind auch deswegen in der SPD oder ihr nahe, weil wir die Hoffnung auf eine Rückbesinnung der SPD auf ihre Grundwerte nicht aufgeben wollen und es, unsere Überzeugung ist, daß eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft auf demokratischem Wege ohne Sozialdemokraten unmöglich ist.
Für die RotDom Redaktion:
Mathias Münch-Dalstein