Gegen
den Markt-Fundamentalismus
Zum Tode des
Attac-Mitbegründers Pierre Bourdieu
Am 23.Januar erlag der
unerbittliche Analytiker des Neoliberalismus Pierre Bourdieu einem Krebsleiden.
Der
1930 geborene weltberühmte Soziologe und Lehrer an verschiedenen französischen
und US-amerikanischen Elite-Hochschulen wuchs In den neunziger Jahren in eine
neue Rolle hinein: Er wurde zum linken Vordenker gegen den
Markt-Fundamentalismus, zum Mitgründer der Attac-Bewegung.
Als
im Dezember 1995 eine große Streikwelle Frankreich erfaßte, hielt Pierre
Bourdieu vor demonstrierenden Eisenbahnern im Pariser Gare de Lyon eine
leidenschaftliche Rede, in der er die Regierenden beschuldigte, eine
"Staatsaristokratie" zu sein, die sich "den Staat unter den
Nagel gerissen und aus dem öffentlichen Wohl eine Privatsache gemacht"
habe. Weil es um die "Wiedereroberung der Demokratie gegen die
Technokratie" gehe, forderte er mit der "Sachverständigen-Tyrannei
vom Typ Weltbank" Schluss zu machen.
Bourdieus
wissenschaftliche und publizistische Arbeit und sein öffentliches Wirken
konzentrierten sich immer mehr auf "Das Elend der Welt". So nannte er
auch seine umfangreiche Studie, die seine Hinwendung zur empirischen Sozialkritik
darstellt.
Auf
rund 850 Seiten versammelt das Buch fast ausschließlich Interviews mit
Zeitgenossen über ihre Lebensumstände. Bourdieu erstellte diese
Sozial-Enzyklopädie mit etlichen jungen Kollegen und unterstrich so seine
Überzeugung von der notwendigen Etablierung eines "kollektiven
Intellektuellen". Die Studie beschreibt eindringlich die Auswirkungen der
neoliberalen "Reformen" auf die französische Gesellschaft und die
wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.
"Der
Neoliberalismus," erklärte Bourdieu in einem Spiegel-Interview, "ist
eine Eroberungswaffe, er verkündet einen ökonomischen Fatalismus, gegen den
jeder Widerstand zwecklos erscheint. Er ist wie Aids: Er greift das
Abwehrsystem seiner Opfer an."
"Tatsächlich
stützt sich die Macht der neoliberalen Ideologie", so Bourdieu in seinem
Buch "Gegenfeuer, Wortmeldnungen im Dienste des Widerstands gegen die
neoliberale Invasion", "auf eine Art neuen Sozialdarwinismus:..es
sind die Besten und Außergewöhnlichsten, wie man in Harvard sagt, die das Rennen
machen". Der wirtschaftliche Erfolg teilt die Menschen in einer
neoliberalen Gesellschaft in winners und losers ein.. Die
losers sind nicht nur arbeitslos
und arm, sondern in den Augen dieser Ideologie auch unfähig und dumm, ihnen
kann der, seinen sozialen Funktionen entkleidete, Staat ruhig eine angemessene
Bildung vorenthalten.
"Die
Einrichtung einer darwinschen Welt, in der die Bindung an Arbeit und
Unternehmen ihren Antrieb schließlich der Unsicherheit, dem Leiden und stress
verdankt, könnte zweifellos nicht so erfolgreich sein, wenn sie nicht die
Komplizenschaft jener unerbittlichen Haltung fände, die eine solche
Unsicherheit ständig erzeugt,...die dauernde Drohung der Arbeitslosigkeit. Denn
letzte Grundlage dieser ganzen wirtschaftlichen Ordnung, die sich auf die
Freiheit des Einzelnen beruft, ist tatsächlich die strukturale Gewalt der
Arbeitslosigkeit, der Verunsicherung, der Angst vor Entlassung: Die Bedingung
des 'harmonischen' Funktionierens des individualistischen Modells der
Mikroökonomie und die individuelle 'Motivation' zur Arbeit beruhen ganz auf
einem Massenphänomen, der Existenz einer Reservearmee von Arbeitslosen. Einer
Armee, die keine ist, weil Arbeitslosigkeit isoliert, atomisiert,
individualisiert, demobilisiert und entsolidarisiert."
"Man
kann den Gewalterhaltungssatz nicht beschummeln: Gewalt geht nie
verloren,"analysiert Bourdieu an anderer Stelle seines Buches
"Gegenfeuer", die strukturelle Gewalt, die von den Finanzmärkten
ausgeübt wird, der Zwang zu Entlassungen und die tiefgreifende Verunsicherung
der Lebensverhältnisse, schlägt auf lange Sicht als Selbstmord,
Straffälligkeit, Drogenmißbrauch und Alkoholismus zurück, in all den kleinen
und großen Gewalttätigkeiten des Alltags."
Die
Globalisierung ist für Bourdieu neben dem Kampfbegriff zur Ausplünderung der
"dritten Welt", ein "Mythos,...eine Vorstellung, die
gesellschafliche Macht besitzt, die Glauben auf sich zieht. Sie ist die entscheidende
Waffe in den Kämpfen gegen die Errungenschaften des welfare state
(Wohlfahrtsstaats): die europäischen Arbeiter, wird gesagt, müssen sich dem
Wettbewerb mit den Arbeitern auf der ganzen Welt stellen. Man weist dabei auf
Länder, in denen es keinen Mindestlohn gibt, in denen 12 Stunden am Tag
gearbeitet wird, für einen Lohn, der zwischen einem Viertel und einem
Fünfzehntel des europäischen Lohnes liegt, in denen es keine Gewerkschaften
gibt, in denen man Kinder arbeiten läßt. Und im Namen dieses Modells verlangt
man von ihnen größere Flexibilität, ein anderes Schlüsselwort des Liberalismus,
das Nachtarbeit, Wochenendarbeit, Überstunden meint, all die auf ewig in den
unternehmerischen Träumen wiederkehrenden Dinge. Überhaupt bedient der
Neoliberalismus unter dem Deckmantel einer sehr schicken und sehr modernen
Botschaft urälteste Vorstellungen des Unternehmertums."
Auf
diese scharfzüngige intellektuelle Einmischung werden wir künftig verzichten
müssen. Die internationale Linke ist durch den Tod des unbestechlichen
Kritikers des Neoliberalismus, des Abbaus des europäischen Sozialstaates und
der Globalisierung wieder "einen Kopf kürzer", wie Friedrich Engels
als Nachruf für seinen Freund Karl Marx schrieb.
Klaus
Körner