Mai 2002

 

 

Gegen den Markt-Fundamentalismus

Zum Tode des Attac-Mitbegründers Pierre Bourdieu

 

Am 23.Januar erlag der unerbittliche Analytiker des Neoliberalismus Pierre Bourdieu einem Krebsleiden.

Der 1930 geborene weltberühmte Soziologe und Lehrer an verschiedenen französischen und US-amerikanischen Elite-Hochschulen wuchs In den neunziger Jahren in eine neue Rolle hinein: Er wurde zum linken Vordenker gegen den Markt-Fundamentalismus, zum Mitgründer der Attac-Bewegung.

Als im Dezember 1995 eine große Streikwelle Frankreich erfaßte, hielt Pierre Bourdieu vor demonstrierenden Eisenbahnern im Pariser Gare de Lyon eine leidenschaftliche Rede, in der er die Regierenden beschuldigte, eine "Staatsaristokratie" zu sein, die sich "den Staat unter den Nagel gerissen und aus dem öffentlichen Wohl eine Privatsache gemacht" habe. Weil es um die "Wiedereroberung der Demokratie gegen die Technokratie" gehe, forderte er mit der "Sachverständigen-Tyrannei vom Typ Weltbank" Schluss zu machen.

 

Bourdieus wissenschaftliche und publizistische Arbeit und sein öffentliches Wirken konzentrierten sich immer mehr auf "Das Elend der Welt". So nannte er auch seine umfangreiche Studie, die seine Hinwendung zur empirischen Sozialkritik darstellt.

Auf rund 850 Seiten versammelt das Buch fast ausschließlich Interviews mit Zeitgenossen über ihre Lebensumstände. Bourdieu erstellte diese Sozial-Enzyklopädie mit etlichen jungen Kollegen und unterstrich so seine Überzeugung von der notwendigen Etablierung eines "kollektiven Intellektuellen". Die Studie beschreibt eindringlich die Auswirkungen der neoliberalen "Reformen" auf die französische Gesellschaft und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.

"Der Neoliberalismus," erklärte Bourdieu in einem Spiegel-Interview, "ist eine Eroberungswaffe, er verkündet einen ökonomischen Fatalismus, gegen den jeder Widerstand zwecklos erscheint. Er ist wie Aids: Er greift das Abwehrsystem seiner Opfer an."

"Tatsächlich stützt sich die Macht der neoliberalen Ideologie", so Bourdieu in seinem Buch "Gegenfeuer, Wortmeldnungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion", "auf eine Art neuen Sozialdarwinismus:..es sind die Besten und Außergewöhnlichsten, wie man in Harvard sagt, die das Rennen machen". Der wirtschaftliche Erfolg teilt die Menschen in einer neoliberalen Gesellschaft in winners und losers ein.. Die losers  sind nicht nur arbeitslos und arm, sondern in den Augen dieser Ideologie auch unfähig und dumm, ihnen kann der, seinen sozialen Funktionen entkleidete, Staat ruhig eine angemessene Bildung vorenthalten.

"Die Einrichtung einer darwinschen Welt, in der die Bindung an Arbeit und Unternehmen ihren Antrieb schließlich der Unsicherheit, dem Leiden und stress verdankt, könnte zweifellos nicht so erfolgreich sein, wenn sie nicht die Komplizenschaft jener unerbittlichen Haltung fände, die eine solche Unsicherheit ständig erzeugt,...die dauernde Drohung der Arbeitslosigkeit. Denn letzte Grundlage dieser ganzen wirtschaftlichen Ordnung, die sich auf die Freiheit des Einzelnen beruft, ist tatsächlich die strukturale Gewalt der Arbeitslosigkeit, der Verunsicherung, der Angst vor Entlassung: Die Bedingung des 'harmonischen' Funktionierens des individualistischen Modells der Mikroökonomie und die individuelle 'Motivation' zur Arbeit beruhen ganz auf einem Massenphänomen, der Existenz einer Reservearmee von Arbeitslosen. Einer Armee, die keine ist, weil Arbeitslosigkeit isoliert, atomisiert, individualisiert, demobilisiert und entsolidarisiert."

"Man kann den Gewalterhaltungssatz nicht beschummeln: Gewalt geht nie verloren,"analysiert Bourdieu an anderer Stelle seines Buches "Gegenfeuer", die strukturelle Gewalt, die von den Finanzmärkten ausgeübt wird, der Zwang zu Entlassungen und die tiefgreifende Verunsicherung der Lebensverhältnisse, schlägt auf lange Sicht als Selbstmord, Straffälligkeit, Drogenmißbrauch und Alkoholismus zurück, in all den kleinen und großen Gewalttätigkeiten des Alltags."

Die Globalisierung ist für Bourdieu neben dem Kampfbegriff zur Ausplünderung der "dritten Welt", ein "Mythos,...eine Vorstellung, die gesellschafliche Macht besitzt, die Glauben auf sich zieht. Sie ist die entscheidende Waffe in den Kämpfen gegen die Errungenschaften des welfare state (Wohlfahrtsstaats): die europäischen Arbeiter, wird gesagt, müssen sich dem Wettbewerb mit den Arbeitern auf der ganzen Welt stellen. Man weist dabei auf Länder, in denen es keinen Mindestlohn gibt, in denen 12 Stunden am Tag gearbeitet wird, für einen Lohn, der zwischen einem Viertel und einem Fünfzehntel des europäischen Lohnes liegt, in denen es keine Gewerkschaften gibt, in denen man Kinder arbeiten läßt. Und im Namen dieses Modells verlangt man von ihnen größere Flexibilität, ein anderes Schlüsselwort des Liberalismus, das Nachtarbeit, Wochenendarbeit, Überstunden meint, all die auf ewig in den unternehmerischen Träumen wiederkehrenden Dinge. Überhaupt bedient der Neoliberalismus unter dem Deckmantel einer sehr schicken und sehr modernen Botschaft urälteste Vorstellungen des Unternehmertums."

Auf diese scharfzüngige intellektuelle Einmischung werden wir künftig verzichten müssen. Die internationale Linke ist durch den Tod des unbestechlichen Kritikers des Neoliberalismus, des Abbaus des europäischen Sozialstaates und der Globalisierung wieder "einen Kopf kürzer", wie Friedrich Engels als Nachruf für seinen Freund Karl Marx schrieb.

 

Klaus Körner