Mai 2002

 

 

 

Demokratie anno 2002

 

Die im Grundgesetz verankerten Grundrechte wie Meinungs- und Demonstrationsfreiheit sind für linksdenkende Menschen meist nicht das Papier wert, auf dem sie stehen. Das war für mich nichts Neues. Aber was ich zusammen mit vier Freunden am 1. Februar auf dem Weg zur "Münchener Sicherheitskonferenz der NATO" erlebte, entsprach einer neuen Qualität von Staats- und Polizeiwillkür, die wir vor allem den Sicherheitspaketen von Schily zu verdanken haben.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich die globalisierungskritischen Aktionen im Umfeld von G8-, IWF-, EU- und NATO-Gipfeln nur wohlwollend über die Medien verfolgt. Doch diesmal, im nahen München, wollte auch ich dabei sein und "Flagge zeigen" gegen eine hochgezüchtete „Sicherheits“- und Kriegspolitik der vereinten Militärstrategen.

Also packte ich schnell ein paar Sachen zusammen, und ab gings zum Bahnhof Zoo, wo schon zwei von „attac“ organisierte Busse auf uns warteten. Doch wir hatten uns zu früh gefreut. Zwar standen die Busse startbereit da, doch zwei dicke Polizeiwannen blockierten die Ausfahrt und hinderten uns am Einsteigen.

Die Demonstration wurde mit der fadenscheinigen Begründung verboten, dass „eine ungewisse Anzahl von Gewalttätern erwartet werde“. Mit dieser Begründung kann man jede größere Demo oder sogar jedes Fußballspiel verbieten.

So gelang es der Berliner Polizei uns über eine Stunde aufzuhalten. Jeder der mitfahren wollte, musste eine Befragung, Leibesvisitation sowie Gepäckdurchsuchung über sich ergehen und seine Daten speichern lassen. Wir versicherten den Beamten, dass wir natürlich nicht an der verbotenen Demo, sondern an der Gewerkschaftsveranstaltung teilnehmen wollten.

Doch eigentlich hätten wir an diesem Punkt schon wissen müssen, dass das nicht die letzte Polizeibehinderung werden würde. Erst mal rollten die Busse in Richtung München - eskortiert von jeweils zwei Polizeiwannen. An jeder Landesgrenze löste die jeweilige Autobahnpolizei die andere ab, so dass wir die ganze Fahrt über Schutz von Polizisten genossen. Selbst auf jeder Raststätte blieben sie an uns kleben und kontrollierten jeden Toilettengang.

Am nächsten Morgen um kurz vor neun war dann plötzlich Schluss. Kurz vor München wurden wir auf eine kleine Raststätte gelenkt, die in eine Kontrollstelle umfunktioniert war. Hier warteten etwa 20 Polizeifahrzeuge und ca. fünfzig Polizeibeamte auf uns. Nachdem die Busse hielten, wurden wir aufgefordert, der Reihe nach einzeln nach draußen zu gehen. Da ich genau hinter dem Fahrer saß, war ich der erste, der das Vergnügen hatte. Mit verschlafenen Augen „lächelte“ ich etwa zehn Sekunden in eine Digitalkamera und musste meinen Namen laut und deutlich für die Audio-Datei nennen. Danach wurde der Ausweis eingezogen, und ich durfte mich noch intensiver als in Berlin mit ausgestreckten Armen und Beinen von einem Polizisten „befummeln“ lassen, der daraufhin auch meinen Rucksack zum wiederholten Male durchwühlte. Nachdem bei mir schon wieder keine illegalen Gegenstände oder Waffen gefunden wurden, musste ich mich auf einen abgesperrten „Gehege“ von ca. 15 qm begeben, aus dem ich nicht heraus durfte. Nach über zwei Stunden standen also fast fünfzig Menschen gedrängt in einem Gatter, umgeben von schmunzelnden bayrischen Bullen, denen die Aktion augenscheinlich Spaß machte. Wieder und wieder wurden wir gefilmt und fotografiert.

Ich glaube, so menschenunwürdig behandelt gefühlt habe ich mich noch nie in meinem Leben, und ich musste mich sehr beherrschen mir stattdessen mit einem siegesbewussten Lächeln nichts anmerken zu lassen.

Während wir alle eingesperrt waren und uns die Beine langsam einschliefen, durchsuchten die Polizisten ohne Zeugen unseren Bus und durchkramten das gesamte Gepäck. Dummerweise wurden im anderen Bus, der etwa fünfzig Meter von uns entfernt stand, weiße Overalls und Transpis gefunden, die die Polizeibeamten als Beweis werteten, dass wir doch an der verbotenen Demo teilnehmen wollten. Auch diese Aktion wurde gefilmt. Einer wurde sogar wegen Beleidigung von Staatsoberhäuptern verhaftet, weil er ein Transpi mit der Aufschrift "Scharon ist ein Kriegsverbrecher" bei sich hatte. Nach drei Stunden wurde uns dann mitgeteilt, dass wir einen "erweiterten Platzverweis" für München und Region erteilt bekommen hätten und in Richtung Norden, wo wir herkamen, zurückfahren sollen.

Unsere Busfahrer, deren Lenkzeit von acht Stunden überschritten war und die zu ihren bestellten Betten in München wollten, protestieren. Doch zwecklos. Lieber erteilte ihnen der Einsatzleiter eine gesetzwidrige Ausnahmegenehmigung zum Weiterfahren, und provozierte damit unsicheres Fahrverhalten, als uns zu einer legalen Veranstaltung fahren zu lassen.

Intern hatten wir uns auf Plan B verständigt und wollten wenigstens nach Nürnberg fahren um dort, mit den anderen aufgehaltenen Mitfahrern aus Freiburg und Leipzig,  eine Spontandemo gegen die Einschränkung unserer Grundrechte machen. Doch auch dies verhinderte die Polizei und zwang uns auf einem winzigen verschlafenen bayrischen Rasthof in Greding zu halten.

Die Polizei wies die Fahrer an, auf eigene Kosten im dortigen Hotel zu übernachten, und wir waren acht Stunden auf einem öden Rastplatz festgehalten. Ein Nürnberger Polizist erklärte uns, dass wir keinerlei Recht hätten, uns nach Süden zu bewegen, und wir bei Zuwiderhandeln festgenommen und in Gewahrsam kommen würden. Dem nach hatten wir ein Platzverbot für den ganzen Süden des Freistaates. Sollte alles umsonst gewesen sein oder sollten wir es versuchen nach München zu trampen? Unmöglich. Die ganze Zeit wurden wir von mindestens drei Fahrzeugen beobachtet, was mich und meine Freunde allerdings nicht hinderte, an einem in der Nähe gelegenen See die Natur und leckere Kräuter zu genießen.

Doch nach sechs Stunden hatte selbst der genügsamste Mensch einfach nur noch Wut über die Langeweile und Polizeibeobachtung. So kam die Idee in kleinen Grüppchen in das Örtchen Greding einzufallen und die erste(!) Demo in der Geschichte des Nestes zu formieren. Es war mittlerweile nach neun und die dunklen Gassen, durch die wir liefen, waren menschenleer. Das hielt uns nicht ab lautstark Sprüche a la "Stoiber, Stoiber, Freiheitsräuber!" zu rufen. Damit erschreckten wir die Polizisten derart, dass sie mit ihren Autos sogar über ihren heiligen grünen Rasen rasten, um uns einzuholen und abzudrängen. Doch wir waren jetzt so in Fahrt, dass wir uns davon nicht abhalten ließen und in die nächste Gasse einbogen und weitermachten.

Als wir unseren Frust abgelassen und doch noch die Aufmerksamkeit von verschlafenen Dorfbewohnern erzielt hatten, zogen wir wieder friedlich zum Rastplatz zurück. Wenigstens bekamen wir Besuch von einigen Dorfjugendlichen die sich mit uns solidarisierten und begeistert waren, dass in dem Kaff mal was los war. Von dort ging es dann wieder nach hause - nach Berlin.

Besonders freuten wir uns, als wir erfuhren, dass es trotz großer Anstrengungen von Seiten der Stadtverwaltung und der Polizei über fünftausend Menschen geschafft hatten, die Festung München zu „stürmen“ und symbolisch auch unseren verhinderten Protest auf den Straßen der bayrischen Hauptstadt zu artikulieren. Und trotz bewiesenermaßen eingesetzter agents provocateurs war die Demo, abgesehen von ein paar abgeknickten Zweigen, friedlich und gewaltlos mit Unterstützung der Bevölkerung durchgesetzt worden.

Doch angesichts der immensen Kosten, schon allein für die Überwachung unserer Busse waren ca. 250 Polizisten das ganze Wochenende im Sondereinsatz, die für die Unterbindung unserer Meinungs- und Demonstrationsfreiheit verschwendet wurden, blieb einem das Lachen im Halse stecken.

Und das war erst der Anfang. Laut Zeitungsberichten ist die EU gerade dabei im Zuge der Definition von Terrorismus auch Globalisierungskritiker und andere politische Bewegungen zu kriminalisieren bzw. als Terroristen abzustempeln. So gelten künftig als terroristische Straftaten: die Besetzung von Bohrinseln durch Greenpeace sowie auch Aktionen von Castor-Gegnern, die den öffentlichen Verkehr behindern.

Zur Kriminalisierung von politischen Aktivisten trägt besonders eine Initiative der spanischen EU-Ratspräsidentschaft bei, in der es heißt: "die allmähliche Zunahme von Gewalt und krimineller Sachbeschädigungen auf verschiedenen Gipfeltreffen der EU [...] sind das Werk eines losen Netzwerkes, das sich hinter diversen [...] Organisationen verbirgt, [...], um den Zielen terroristischer Gruppen Vorschub zu leisten." Um dem vorzubeugen, sollen Informationen über Aktivisten über Geheimdienstkanäle der EU ausgetauscht werden, da "dies ein sehr nützliches Werkzeug bereitstellen [würde] für die Prävention und nötigenfalls Strafverfolgung gewalttätiger urbaner Jugendradikalität, die zunehmend von terroristischen Gruppen als Handlanger benutzt wird, um ihre kriminellen Ziele durchzusetzen".

Ich glaube, dies zeigt, was auf die globalisierungskritische Bewegung bei den nächsten Gipfeltreffen zukommen wird.

Und trotzdem dürfen wir dem nicht einfach zusehen!

Zusammengeschweißt durch die gemeinsamen Erlebnisse auf der Fahrt nach München treffen sich seitdem zehn bis zwanzig junge, linksdenkende Menschen regelmäßig im Mehringhof und planen als "munich community" neue Vernetzungsstrategien wie in Italien, denn gemeinsam sind wir stark. Erste Veranstaltungen und Mithilfe an Ostermarsch und 1. Mai sind geplant und eine unserer nächsten Aktionen wird die hoffentlich zahlreiche Teilnahme an Demonstrationen in Sevilla am 21., 22. Juni 2002 gegen die bevormundende Mentalität und das autoritäre System der EU sein.

Wenn ihr Bock habt mitzumachen, meldet euch bei der Redaktion und vergesst nicht: WIR LASSEN UNS NICHT STOPPEN !

 

oskar