November 2001

 

Das Theater vom Guten und vom Bösen

 

Der Autor des Textes, der Journalist, Romancier und Essayist Eduardo Galeano, geboren 1940 in Montevideo (Urugay), wurde durch seinen Dokumentationsband „die offenen Adern Lateinamerikas“ in Europa bekannt. Er ist einer der genauesten Beobachter der Zeitgeschichte unter den Schriftstellern Lateinamerikas.

 

Im Kampf des Guten gegen das Böse ist immer die einfache Bevölkerung, die die Toten stellt. Die Terroristen haben in New York und in Washington Arbeiter aus 50 Ländern umgebracht, im Namen des Guten gegen das Böse. Und im Namen des Guten gegen das Böse, schwört Präsident Bush Rache: „Wir werden das Böse aus dieser Welt auslöschen“, kündigt er an.

Das Böse auslöschen? Was wäre das Gute ohne das Böse? Nicht nur die religiösen Fanatiker benötigen Feinde, um ihren Wahnsinn zu rechtfertigen. Um ihre Existenz zu rechtfertigen, benötigen auch die Rüstungsindustrie und der gigantische Militärapparat der USA Feinde. Gute und Böse, Böse und Gute: die Akteure vertauschen die Masken, die Helden werden zu Monstern und die Monster zu Helden, ganz wie es diejenigen fordern, die das Drama schreiben.

Das hat nichts Neues an sich. Der deutsche Wissenschaftler Werner von Braun war böse, als er die V-2-Rekaten erfand, die Hitler über London ablud, doch er wandelte sich zum Guten an dem Tag, an dem er sein Talent in die Dienste der Vereinigten Staaten stellte. Stalin war gut während des 2.Weltkrieges und böse danach, als er das Reich des Bösen dirigierte. In den Jahren des Kalten Krieges schrieb John Steinbeck: „Vielleicht braucht die ganze Welt Russen. Ich wette, auch in Rußland brauchen sie Russen. Vielleicht nennen sie sie dort Amerikaner.“ Später wurden die Russen besser. Jetzt sagt auch Putin: „Das Böse muß bestraft werden.“ Saddam Hussein war gut, und gut waren die Chemiewaffen, die er gegen die Iraner und die Kurden einsetzte. Später wurde er böser. Da hieß er bereits Satan Hussein, als die Vereinigten Staaten, die gerade in Panama eingedrungen waren, auch in den Irak einmarschierten, weil der Irak Kuwait überfallen hatte. Bush Senior trug für diesen Krieg gegen das Böse die Verantwortung. Mit dem humanitären und mitleidenden Geist, der seine Familie charakterisiert, bracht er mehr als 100.000 Iraker um, in ihrer großen Mehrheit Zivilisten.

Satan Hussein ist immer noch dort, wo er war, aber dieser Feind Nummer eins der Menschheit ist in die Kategorie des Feindes Nummer zwei zurückgefallen. Die Geißel der Welt heißt nun Osama Bin Laden. Die CIA hatte ihm alles beigebracht, was er in Sachen Terrorismus wußte: Bin Laden, geliebt und bewaffnet von der Regierung der USA, war einer der wichtigsten „Freiheitskämpfer“ gegen den Kommunismus in Afghanistan. Bush Senior war Vizepräsident, als Präsident Reagan sagte, diese Helden seien „das moralische Äquivalent der Gründerväter Amerikas“. (...) Die afghanischen, muslimischen Fundamentalisten waren die Guten. Jetzt, 13 Jahre später, in Zeiten von Sohn Bush, sind sie die bösesten Bösen. Henry Kissinger war einer der ersten, die auf die jüngste Tragödie reagierten. „Genauso schuldig wie die Terroristen sind diejenigen, die sie unterstützen, finanzieren und inspirieren“, urteilte er mit Worten, die Präsident Bush wenige Stunden danach wiederholte. Wenn das so ist, müßte man damit anfangen, Kissinger zu bombardieren. Er würde sich vieler Verbrechen mehr als schuldig erweisen als der, die von Bin Laden und von allen in dieser Welt existierenden Terroristen begangen wurden. Und in viel mehr Ländern: Im Dienste mehrerer US-Regierungen stehend, leistete er „Unterstützung, Finanzierung und Inspiration“ – für den Staatsterror in Indonesien, Kambodscha, Zypern, Südafrika, Iran, Bangladesch und in den südamerikanischen Ländern, die den schmutzigen Krieg des Plan Condor durchmachten. Am 11. September 1973, genau 28 Jahre vor den jetzigen Feuerbällen, hatte der Präsidentenpalast in Chile in Flammen gestanden. Kissinger war es, der die Grabschrift für Salvador Allende und die chilenische Demokratie vorweggenommen hatte, als er das Ergebnis der Wahlen kommentierte: „Wir müssen nicht akzeptieren, das ein Land wegen der Unverantwortlichkeit seiner Bevölkerung marxistisch wird.“ Die Verachtung des Volkswillens ist eine der zahlreichen Übereinstimmungen zwischen dem Staatsterrorismus und dem Privatterrorismus. (...) Der handwerkliche und der hochtechnisierte Terrorismus, jener der religiösen Fundamentalisten und jener Marktfundamentalisten, jener der Verzweifelten und jener der Mächtigen, jener der losgelassenen Irren und jener der Profis in Uniform ähneln sich in vielem. Alle teilen dieselbe Verachtung für das menschliche Leben: Die Mörder der 6.000 zermalmten Bürger unter den Trümmern der Zwillingstürme, die wie Sandburgen einstürzten, und die Mörder der 200.000 Guatemalteken, in ihrer Mehrheit Indígenas, die ausgelöscht wurden, ohne daß ihnen jemals das Fernsehen oder die Zeitungen der Welt geringste Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Sie, die Guatemalteken, wurden nicht von irgend einem fanatischen Muslim geopfert, sondern von terroristischen Militärs, die „Unterstützung, Finanzierung und Inspiration“ von den aufeinanderfolgenden US-Regierungen erhielten.

Alle in den Tod verliebten stimmen ebenfalls in ihrer Besessenheit überein, die sozialen, kulturellen und nationalen Widersprüche auf militärische Begriffe zu reduzieren. Im Namen des Guten gegen das Böse, im Namen der einzigen Wahrheit, lösen sie alle alles, in dem sie zuerst umbringen und anschließend fragen. Und auf diesem Weg enden sie damit, den Feind zu nähren, den sie bekämpfen. (...) Es waren die Greueltaten der USA im mittleren Osten, die im großen Maße den heiligen Krieg ausbrüteten.

Auch wenn jetzt der Führer der Zivilisation zu einem neuen Kreuzzug aufruft, Allah ist für die Verbrechen, die in seinem Namen begangen werden, nicht schuldig. Schließlich hat Gott nicht den Holocaust der Nazis gegen die Anhänger Jehovas befohlen, und es war nicht Jehova, der das Massaker in Sabra und Chatila anordnete oder vorschrieb, die Palästinenser von ihrem Land zu vertreiben. (...)

Die Terrorismen zwingen uns, von einer Rache zur anderen zu stolpern. Ich sehe ein kürzlich veröffentlichtes Foto vor mir: auf einer Wand in New York hatte eine Hand geschrieben: „Auge um Auge macht die Welt blind.“

Die Gewaltspirale bringt Gewalt und auch Konfusion hervor: Schmerz, Angst, Intoleranz, Haß, Wahnsinn. (...) Und die Wahnsinnigen, wahnsinnig vor Haß, agieren genauso wie die Macht, die sie hervorbringt. Ein dreijähriges Kind, mit dem Namen Luca, kommentierte in diesen Tagen. „Die Welt weiß nicht, wo ihr Haus ist.“ Der Kleine schaute auf eine Landkarte. Er hätte auch eine Nachrichtensendung sehen können.

 

Gekürzt aus: Lateinamerika Nachrichten Nr. 329 (November 2001)